: Unsere Worte sind frei
PROTEST Emel Mathlouthi gab Tunesiens Revolte ihr Lied. Ihr erstes Album reflektiert ihre Gefühle im Pariser Exil
VON STEFAN FRANZEN
Es ist der 19. Januar 2011. Fünf Tage ist es erst her, dass sich die tunesische Bevölkerung von ihrem Diktator Ben Ali befreit hat. Auf der Avenue Bourguiba in Zentrum von Tunis strömen Tausende von Menschen zusammen, um der Opfer des Aufstands zu gedenken, den „Märtyrern der Revolution“. Inmitten der Menge erhebt eine junge Frau im leuchtend roten Mantel ihre hohe Stimme, sie trägt eine Kerze in der Hand. Zunächst zaghaft, dann immer selbstsicherer singt sie ihr Lied. Dieser Moment machte Emel Mathlouthi zur Stimme der Jasminrevolution.
„Ich hatte in dem Augenblick keine Ahnung, was passieren würde, ich war sehr ängstlich“, erinnert sich die Sängerin mehr als ein Jahr später rückblickend an die Szene. „Doch es gab um mich herum Leute, die sich dieses Lied wünschten, weil es ihnen während der letzten dunklen Jahre der Unterdrückung Kraft gegeben hatte“, berichtet sie. „Schließlich sang ich aus vollem Herzen und war glücklich darüber, dass dieser Song diesen großen Tag in Tunesien erleben durfte.“
Der Song hieß „Kelmti Horra“ – zu Deutsch: „Meine Worte sind frei“ – und die berührende Szene ging dank Youtube um die Welt. Die Botschaft war eindringlich und klar, und die Bilder riefen Erinnerungen an die Bürgerrechtsbewegung der USA der 1960er ins Gedächtnis zurück. Tatsächlich bezeichnet Emel Mathlouthi Joan Baez, die US-Protestikone der 60er Jahre, als ihr Vorbild.
„Kelmti Horra“ heißt nun auch ihr erstes Album. Mit seiner warmen, hoffnungsvollen Stimmung fällt der Titelsong allerdings aus dem Rahmen – die meisten Stücke auf dem Album strahlen eher elektronische Kühle und Schwere aus. Emel Mathlouthi hat „Kelmti Hourra“ mit ihrem langjährigen musikalischen Partner Nazal sowie Spezialisten aus dem Dubstep- und Elektronikbereich erarbeitet, wobei sie tunlichst darauf geachtet hat, dass die Rhythmen in der tunesischen Tradition verhaftet bleiben. Mit starken Melodien und ausgefeilten Arrangements, die sich aus tunesischer Volksmusik, westlichen Folkharmonien und psychedelischer Electronica zugleich speisen, arbeitet Emel Mathlouthi auf „Kelmti Horra“ auch ihre persönlichen Gefühle während der vergangenen vier Jahre auf: „Es sind Lieder, die meine Schmerzen und meinen Kampf, die Tränen einer Exilantin in sich tragen“, so charakterisiert sie ihr Werk.
Die Jasminrevolution in Tunesien mag auf den ersten Blick ein HipHop-Gesicht getragen haben und in überwiegendem Maße männlich geprägt gewesen sein. Doch mit ihrem Ansatz empfiehlt sich die 30-Jährige als kulturelle Hoffnungsträgerin für die Jugend ihres Landes. Dass sie musikalisch neue Wege geht, sieht sie ihrem Alter geschuldet. „Klassische arabische Musik war nie meine Tasse Tee“, bekennt sie. Allerdings begeisterte sie sich schon früh für die Urväter des arabischen Chansons, den jüdisch-tunesischen Sänger Cheikh El Asrif oder den Ägypter Cheikh Imam, später entdeckte sie die zeitgenössischen Werke des libanesischen Songwriters und Oud-Virtuosen Marcel Khalifé für sich – allen dreien ist ein Hang zum politischen Engagement und zur Befreiung von überkommenen Normen gemein. „Als ich anfing, Lieder zu schreiben, waren meine Verse immer spontan, frei, rau – sie haben sich nicht gereimt“, sagt Emel Mathlouthi.
Doch auch westliche Einflüsse strahlten aus. Noch als Schülerin gründete sie in Tunis eine Metal-Combo, begeisterte sich für Pink Floyd und Gothicbands, für Portishead und Rammstein. „Mit meiner Kombination aus westlichen Gitarrenakkorden und tunesischen Texten war ich damals eine Vorreiterin. Doch die Presse und das Publikum hatten Probleme, mich so zu akzeptieren“, erinnert sie sich an ihre Anfänge.
Unter dem Ben-Ali-Regime gab es für die Jugend ohnehin kaum Entfaltungsmöglichkeiten: Ob Instrumente, Übungsräume oder eine professionelle Musikindustrie – an allem mangelt es. Emel Mathlouthi betont, dass sie zwar nie ins Gefängnis gesteckt wurde, doch habe man die junge, aufmüpfige Jugend durch Nichtbeachtung gestraft und ausgegrenzt. „Sie haben nicht damit gerechnet, was für ein Dickkopf ich bin“, lächelt sie rückblickend. „Ich war verrückt genug, um 2007 nach Frankreich zu gehen, um in Paris an meiner Karriere zu arbeiten und zugleich meine Musik von dort via Computer und mp3-Files nach Tunesien zu schicken, um die Menschen dort für die Freiheit zu mobilisieren.“ Als Internetaktivistin blieb sie mit ihrem Heimatland in Verbindung, in den Clubs an der Seine präsentierte sie parallel dazu ihre Songs. Äußerst anstrengend sei dieser Spagat gewesen, sagt sie. Aber er hat sich ausgezahlt: Nach Ben Alis Sturz kehrte Emel Mathlouthi deshalb nach Tunis zurück, um diesen Augenblick zu feiern.
Mehr als ein Jahr nachdem der Arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang nahm, sind viele Hoffnungen von der Realität eingeholt worden. Auch in Tunesien selbst ist die Demokratie noch lange nicht am Ziel: Die Rechte der Frauen und die Trennung von Staat und Kirche stehen infrage, Korruption prägt noch immer die Mentalität. Zwar gibt es nun Rede- und Pressefreiheit, doch auf kulturellem Gebiet habe sich noch nicht viel bewegt, findet Emel Mathlouthi.
„Ich will als Zeugin angstfrei beobachten, was in Tunesien vor sich geht“, hat sie sich vorgenommen. „Es kommt nun darauf an, dass ich meinen Weg weitergehe und mit meiner Musik reise – um eine Brücke zu bauen zwischen der tunesischen Jugend und der in anderen Ländern.“
■ „Kelmti Horra“ (World Village/Harmonia Mundi)