: Die Erben der barfüßigen Diva
INSELBLUES Mit Cesária Évora haben die Kapverden ihre Ikone verloren. Doch eine neue Generation trägt das Lebensgefühl der Saudade weiter
VON STEFAN FRANZEN
Der ganze Archipel war auf den Beinen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Tausende säumten singend und weinend die Straßen von Mindelo, der Hauptstadt von São Vicente, an jenem 20. Dezember 2011. Drei Tage zuvor war ihre Ikone gestorben, die das Lebensgefühl der Kapverden wie keine andere verkörpert, besungen und mit weltweitem Erfolg über die Meere getragen hatte.
Erst drei Monate zuvor hatte sie aus gesundheitlichen Gründen ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft verkündet, das Herz spielte bei der 70-Jährigen nicht mehr mit. „Sie hat die Welt erleuchtet“, ließ der Staatspräsident Jorge Carlos Fonseca bei der Trauerfeier verlauten. „Wir sterben alle ein wenig“, fügte er hinzu. Denn Cesária Évora stand für die Kapverden wie einst Amália Rodrigues für Portugal oder Oum Kalthoum für Ägypten.
Doch die Musikszene der Kapverden ist nach Évoras Tod keineswegs in eine Schockstarre verfallen. Dass posthum erst einmal unveröffentlichte Aufnahmen und schmucke Ehrungsboxen herausgebracht werden, wie es die Marktgesetze diktieren, ist bei der Évora bislang ausgeblieben – wohl auch, weil schon zu Lebzeiten die Archive durchforstet wurden. Da die „barfüßige Diva“ aber auch exemplarisch für andere Stimmen stand, deren Karrieren sie hell überstrahlte, warten manche nun – auch das ein logischer Mechanismus der Plattenindustrie – mit jenen Sängerinnen auf, die „zu Unrecht immer in ihrem Schatten standen“, wie es so schön heißt.
So präsentiert das Frankfurter Network-Label uns die Sängerin Titinha, ebenfalls ein Kind von Mindelo, und hat aus zwei neueren CDs und restaurierten Aufnahmen ein „Porträt“ veröffentlicht. Titinhas Lieder wirken wie ein Abbild des Évora-Repertoires: Sie leben vom ewig reizvollen Kontrast der langsamen, melancholischen, herzschmerzenden Morna, voll des sehnsüchtigen Saudade-Gefühls und der kecken, satirischen Coladeira. Besonders die patinagetränkten Aufnahmen aus den Sechzigern sind hörenswert, verströmen bukolischen Klarinetten- und rauen Twanggitarren-Charme: Futter also für alle, die dem Idiom der Évora nachtrauern.
Doch man darf bei alledem nicht vergessen, dass die Évora schon zu Lebzeiten „outdated“ war. Längst ist auf dem Archipel – und in der weltweiten kapverdischen Exilgemeinde, die fast das Doppelte der verbliebenen Bevölkerung umfasst – eine neue Generation von Sängern, Musikern und Poeten herangewachsen, die sich an ganz anderen Sounds orientieren.
Bereits in den späten Neunzigern drangen die einstmals von den portugiesischen Kolonialherren verbotenen afrikanischen Rhythmen wie Funaná, Batuque oder Tabanka ins Bewusstsein, angekurbelt durch das Musikerkollektiv Simentera und seinen Vordenker Mario Lucio de Sousa. Auch die international erfolgreichen Interpreten kapverdischer Provenienz stützen sich vor allem auf diese Afro-Erweiterung der Klangsprache – allen voran die Sängerin Lura.
Die Zukunft der kapverdischen Musik scheint überwiegend weiblich und sehr kosmopolitisch zu sein: Mit der Sängerin Mayra Andrade hat der Archipel einen Jungstar mit Weltformat hervorgebracht, der aufgrund seiner weltbürgerlichen Biografie freihändig aus Chanson, Bossa Nova, kubanischer Musik wie Flamenco schöpft. Ihre große Konkurrentin Sara Tavares lernte die Tradition der Kapverdin erst von Portugal aus – quasi auf dem „zweiten Bildungsweg“ – kennen, ihr akustischer Balladen-Sound lässt unverkennbar das Vorbild des Afro-Stars Lokua Kanza durchhören.
Am erstaunlichsten unter all den emporstrebenden Kapverdinnen jedoch ist Carmen Souza: Die Gitarristin und Sängerin wirft sämtliche Grundsätze der kreolischen Traditionen über Bord. Sie ist eine unorthodoxe Anti-Diva, die affektierte, katzenartige und mädchenhafte Timbres in wenigen Takten durchlaufen kann, und verknüpft fast abstraktes Sprechtheater, Scat und jazzig verbrämte lusitanische Süffigkeit zu einer beispiellosen Individualität. Wenn sie „Sodade“ – einen der größten Hits von Cesária Évora – aufgreift, genügt ihr statt luxuriöser Streicherbegleitung ein simpler Tonkrug.
Mit Cesária Évora mag die Ära der kreolischen Barsängerinnen zu Ende gegangen sein. Die Saudade nicht: für dieses Gefühl finden sich im 21. Jahrhundert nur andere Ausdrucksformen.