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Archiv-Artikel

Die Drahtesel haben sozialpolitische Wurzeln

Ein Vergleich zwischen Holland und Deutschland belegt, dass nicht nur eine flache Landschaft die Niederlande zum Radlerparadies gemacht hat. Ihre Nachbarn interessierten sich weniger für Körperbeherrschung, vielmehr für Geschwindigkeit – bis das Auto erfunden wurde

Jeder kennt die schwarzen Hollandräder und wer einmal in Amsterdam über die Straße gegangen ist und dabei fast von einem fluchenden Radfahrer überfahren wurde, weiß, wie wichtig die Fortbewegungsmittel bei unseren Nachbarn sind. Während in Deutschland seit der Ausrufung des Nationalen Radfahrwegeplans 2002 nicht viel passiert ist, gibt es in den Niederlanden schon seit Jahrzehnten eines der engmaschigsten Wegenetze der Welt. Warum Holland die Radfahrernation par excellence ist, untersuchte jetzt die Bielefelder Historikerin Anne-Katrin Ebert.

Ihre Studie versucht im direkten Vergleich zu Deutschland herauszufinden, womit die niederländische Begeisterung für den „Drahtesel“ zu erklären ist. Ebert zeigt auf, dass die Popularität des Fahrrads in den Niederlanden und die deutsche Zurückhaltung keineswegs nur auf geographische Besonderheiten zurückzuführen ist, sondern vielmehr eng verknüpft war mit den sozialen und kulturellen Entwicklungen beider Länder am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Niederlande gehörten ebenso wie Deutschland zu den Spätzündern der internationalen Fahrradbegeisterung vor über 100 Jahren. Das Urteil radelnder Engländer, die sich selbst als Avantgarde dieses neuen Sports betrachteten, hätte damals vernichtender nicht ausfallen können: Die Landschaft sei langweilig, die Straßen seien miserabel, und der entsetzliche Gegenwind mache das Radfahren zu einer Tortur. Kurz: dem Land sei keine große Zukunft mit dem Fahrrad beschieden.

Da schon eher Deutschland, das zumindest wegen der Stahlindustrie eine gute Straßen-Grundlage hatte und als aufstrebende Industrienation auch bei diesem neuen Sport nicht hintenanstehen wollte. Das Rad war Ausdruck technischen Fortschritts und demonstrierte die menschliche Schaffenskraft und Kontrolle über die Technik. „Anders als die schnaufende Eisenbahn, die ihre Passagiere geradezu verschluckte, um sie dann an anderer Stelle wieder auszuspucken, verkörperte das Fahrrad ein enges Zusammenwirken von menschlichem Körper und Technik, bei dem der Mensch immer die Kontrolle behielt“, resümiert die Historikerin.

In beiden Ländern übte der Drahtesel eine besondere Anziehungskraft auch auf liberale bürgerliche Kreise mit ihrer modernen Lebensform aus: Alles musste schneller gehen und das Fahrrad half wie keine andere Maschine dabei, Körper und Geist zu trainieren. Obwohl sich die liberalen Radfahrerverbände in Deutschland und den Niederlanden damals in diesem Punkt einig waren, war doch ihr gesellschaftliches Umfeld und die an das Rad geknüpften Erwartungen grundlegend verschieden. In den Niederlanden bildeten die Liberalen seit Mitte des 19. Jahrhunderts die gesellschaftliche Elite. Wer Rad fahre, argumentierte der niederländische Radfahrerverband ANWB – bis heute der größte Tourismusverband des Landes – erlebe am eigenen Leib liberale Werte wie Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Selbstkontrolle. Emotionale Ausbrüche, Zusammenrottungen, Trinkexzesse, all diese Hemmungslosigkeiten, denen sich das einfache Volk aus Sicht der elitären Liberalen all zu leicht hingebe, würden durch die Disziplin des Radfahrens nachhaltig bekämpft.

Ganz andere Hoffnungen verbanden die Deutschen mit dem Rad. Sie interessierten sich weniger für die Körperbeherrschung als vielmehr für Geschwindigkeit. Groß war die Begeisterung, als auf dem Radrennen Wien- Berlin 1893 die ein Jahr zuvor beim Offiziersritt zu Pferde auf derselben Strecke erzielte Zeit weit unterboten wurde. Das Fahrrad sollte den Triumph der Technik manifestieren, das Pferd der Aristokraten ablösen und damit gleichzeitig die Führungsansprüche des Bürgertums untermauern. Kein Wunder, dass sich deutsche Radfahrer auch schnell für das Automobil interessierten. Schließlich ging es auch dort um technischen Fortschritt. Als nach der vorletzten Jahrhundertwende das Fahrrad immer erschwinglicher für einfache Leute wurde, verlor es aus der Sicht der Bürgerlichen viel von seiner Attraktivität.

„Spätestens der 1. Weltkrieg beschleunigte das Auseinanderdriften der Entwicklungen in beiden Ländern“, so Anne-Katrin Ebert. Lange vor dem Volkswagen-Versprechen der Nazis versuchten die Verkehrsplaner der Weimarer Republik die Straßen frei zu machen für das Kraftfahrzeug. Der „Drahtesel“ gehörte zwar zum wichtigsten Verkehrsmittel der Arbeiter, aber er war längst im verkehrsplanerischen Abseits gelandet. Mit dem Verbot von Radrennen auf Straßen 1906 hatten die niederländischen Radfahrverbände früh ihre Sicht auf die Vorzüge des Fahrrads im Gesetzestext verankert. Beim Radeln sollte es fortan lieber um Körperbeherrschung und die Erfahrung der Schönheit des eigenen Landes auf Radtouren gehen. HOLGER ELFES