Ohne Fernseher kein Krieg

In seinem neuen Film „Das Leben ist ein Wunder“ erzählt Emir Kusturica, wie der Krieg nach Bosnien kam. Das ist provokant, einseitig und gleichzeitig vielschichtig – aber nicht so bildmächtig wie sonst

von JOCHEN SCHMIDT

Wenn Emir Kusturica in seinen Werken Zeitgeschichte interpretiert, steht er unter verschärfter Beobachtung. Denn beim Thema Jugoslawien wittert die Wagenburgmentalität aller Parteien in jedem Detail Propaganda für die andere Seite. In Bosnien inzwischen als verlorener Sohn angefeindet, gilt er auch im Westen vielen seit der Debatte um „Underground“ als Serbenfreund. Er selbst pflegt sein Image als bärbeißiger Naturbursche mit Herz; er legt lieber nach, als sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen. Dahinter steckt die Überzeugung, sich keiner Gruppe zuordnen zu lassen, sondern sich nach wie vor als Jugoslawe zu verstehen. Schließlich hat nicht Kusturica sein Land verlassen, sondern sein Land ihn.

Der neue Film, „Das Leben ist ein Wunder“, spielt im Bosnien von 1992, als der serbisch-kroatische Krieg schon gelaufen war, aber die Ereignisse im Fernsehen für die meisten Bosnier immer noch so weit weg schienen wie eine Hungersnot in Bangladesch. Man vertraute darauf, dass der Krieg nicht bis hierher kommen würde, denn hier lebten vernünftige Menschen.

Slavko Stimać hat schon die Hauptrolle in Kusturicas erstem Film, „Erinnerst du dich an Dolly Bell“, gespielt. Damals gab er einen pubertierenden Jungen, der sich Hypnose beibringt, um den Kommunismus durchzusetzen. Die Rolle des Luka im neuen Film könnte eine erwachsene Version davon sein. Inzwischen ist er Ingenieur und lebt in einer vormodernen, bosnischen Idylle. Die Tauben gurren, die Katze kann Vögel hypnotisieren, ein lebensmüder Esel blockiert die Gleise, die Jungs spielen Fußball, der Briefträger fährt mit dem Fahrrad von Haus zu Haus.

Als Ingenieur steht Luka für das Verbindende, er sprengt Tunnel in den Fels, um die Landesteile einander näher zu bringen. Ein hellsichtiger Zug von Kusturica, denn im Ausbau der Schienenwege liegt die ganze Ambivalenz des Fortschritts. In Ivo Andrićs Roman „Die Brücke über die Drina“ beobachten die alten Muslime misstrauisch die mit der österreichischen Annexion einsetzende emsige Bautätigkeit und behalten schließlich Recht, als die Bahn nicht nur den Fortschritt, sondern auch den Ersten Weltkrieg schneller in ihre Provinz bringt.

Der neue Krieg kündigt sich in Gestalt von Bären an, die vor den Kämpfen in Kroatien geflüchtet sind. Die Menschen können es nicht glauben, schließlich hat doch „Tito den letzten Bären in Jugoslawien getötet“. Solche zu seinen Lebzeiten über Tito kolportierten Geschichten waren vielleicht nur eine spezielle Form der Mythenbildung in der Region, die heute in anderer Gestalt fortlebt. Von einem Buch „Geheimnisse des Krieges“ wird gemunkelt, in dem Schwarzenegger erkläre, „wie man Kehlen durchschneidet“. Eine eifersüchtige Frau glaubt, dass ihre Nebenbuhlerin ihren Mann „mit einem muslimischen Fluch“ belegt hat. Und die Kroaten, heißt es, hätten ihre schweren Geschosse „von Genscher“.

Die Tunneleröffnung inszeniert Kusturica als polternde Parodie auf Tito-Feiern. „Mit dem kleinen Finger teilst du das Meer“, singt eine Opernsängerin, begleitet von Kusturicas Band „No Smoking Orchestra“. Diese Band, eine Legende im Vorkriegssarajevo, steht in ihrer gemischten Besetzung und mit ihrem Humor für den Geist der Stadt. Politik galt als Betätigungsfeld für Korrupte. Die Tragik dieser an westlicher Popkultur orientierten Jugend besteht darin, dass sie in ihrer Verachtung für die nationalistischen Umtriebe der späten Achtziger den Verbrechern das Feld überließ.

Auch Luka verschließt vor der Bedrohung die Augen. Das ist das Geschichtsbild des Films: Geschäftemacher kontrollieren die Gewalt, bosnische Serben und muslimische Bosniaken vertreiben sich gegenseitig, die Volksarmee steht zwischen den Fronten. Würden nur alle ihre Fernseher aus dem Fenster werfen, der Krieg fände gar nicht statt. Diese Interpretation der Ereignisse lässt sich natürlich diskutieren, aber von Kusturica ist man es gewohnt, dass seine Bilder alles Konkrete locker transzendieren. Ein bisschen enttäuscht der neue Film in dieser Beziehung, es gibt wenig Szenen von herzzerreißender Schönheit. Immerhin wird die Landschaft Bosniens in den herrlichsten Farben gezeigt, es lag dem Regisseur offenbar am Herzen, dem von den Medien gezeichneten Bild eines Bosnien als Minenfeld etwas entgegenzusetzen.

Lukas Sohn träumt von einer Karriere als Fußballer, aber statt der Einladung zu Partizan Belgrad kommt die Einberufung. Er gerät in Gefangenschaft, und Luka bekommt Sabaha als Gei- sel, eine Muslimin, in die er sich verliebt. Schließlich ist er nicht mehr bereit, sie für sei- nen Sohn herzugeben. Die beiden fliehen in sein Geburtshaus in den Wäldern, Gelegenheit für Szenen, die an Kriegsfilmverweigerung grenzen.

Es muss eine schreckliche Situation für einen Künstler sein, wenn jedes Detail als politische Stellungnahme gedeutet wird. Und Kusturica lässt es sich nicht nehmen zu provozieren. Dass Sabaha ausgerechnet von Muslimen angeschossen wird, muss für die bosnische Seite ein Affront sein, der Film lief denn auch bis heute nicht in Bosnien. Im Lazarett rettet der bosnische Serbe die muslimische Bosniakin mit seinem Blut. Wenn man an die absurden Rassentheorien denkt, die „Wissenschaftler“ beider Seiten damals entworfen haben (und deren Behauptungen von der westlichen Politik implizit übernommen wurden), dann ist dieses Bild vom Blutaustausch nicht zu gering zu bewerten.

Als Lukas Sohn schließlich aus der Gefangenschaft kommt, wird er von einer westlichen Journalistin gefragt: „Were you prepared to die for the freedom of Bosnia?“, woraufhin er ins Mikro rülpst. Großer Lacher der im Kino anwesenden Jugoslawen. Als Sündenbock hat sich bei ihnen inzwischen der Westen eingebürgert und stellvertretend für ihn seine tolpatschigen Medien. Ob die latente Selbstgerechtigkeit die Region weiterbringen kann, darf bezweifelt werden. Aber Kusturica ist eben Punk, beziehungsweise, wie es in den Siebzigern in Jugoslawien hieß, einer der „New primitives“.

Doch was ihn früher Fellini nahe gerückt hat – die unbegreifliche Poesie seines alles andere als linearen Erzählens –, will ihm im neuen Film nicht gelingen. Er wird es wissen, und deshalb warte ich schon jetzt sehnsüchtig auf seine nächste Arbeit.

„Das Leben ist ein Wunder“, Regie: Emir Kusturica. Mit Slavko Stimac, Natasa Solak u. a., Frankreich/Serbien-Montenegro 2004, 154 Min.