: Eine Tür rennt man nur einmal ein
Im September werden sich Disney und die Brüder Weinstein trennen, Begründer der Produktionsfirma Miramax. Damit geht eine erfolgreiche Allianz von Mainstream- und Independent-Kino zu Ende. Tatsächlich weiß niemand mehr so genau, was unter einem unabhängigen Film zu verstehen ist
von SEBASTIAN MOLL
Um Harvey Weinstein ist es still geworden. Seit er sich im vergangenen Jahr mit Disney überwarf, hat sich der temperamentvolle New Yorker aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Es ist die erste Atempause für Weinstein nach 15 rasanten Jahren. In dieser Zeit hat er zusammen mit seinem Bruder Bob das amerikanische Kino revolutioniert. Mit Geschmack und Marktinstinkt belebte er das Autorenkino, bewies, dass Kunstfilm Kasse machen kann, und erhielt für seine Produktionen einen Haufen Oscars. Zuletzt wurde er Opfer seines Egos: Der Disney-Konzern, der 1993 Weinsteins Firma Miramax kaufte, wollte Michael Moores Dokumentation „Fahrenheit 9/11“ nicht vertreiben; Budgets sprengten den Rahmen, und in der Folge bezahlte der Major Weinstein aus. Schließlich bezahlte Disney für Miramax seinerzeit 70 Millionen, weil die Weinsteins ein Gespür für Low-Budget-Produktionen mit Massen-Appeal und dementsprechend großen Gewinnmargen hatten – nicht wegen pompöser Produktionen wie „Cold Mountain“ oder „Aviator“, die kaum mehr einspielten, als sie kosteten.
Weinstein und der „Indie“ brachen über die US-amerikanische Film-Szene herein, nachdem Weinstein 1989 Steven Soderberghs Film „Sex, Lies and Videotapes“ in Sundance gesehen und gekauft hatte. Soderberghs Langfilmdebüt kostete gerade einmal 1,2 Millionen Dollar; es war eine grimmige Bestandsaufnahme des Amerikas in den späten Achtzigerjahren: Das Land ist von der Aids-Krise erschüttert, die Menschen versuchen so neurotisch wie verzweifelt, ihre kaputten Beziehungen zu flicken. Weinstein stach in Sundance alle Mitbewerber um den Film aus und machte sich sogleich daran, „Sex, Lies and Videotapes“ durch Lobbyarbeit in den Hauptwettbewerb von Cannes zu bringen. Soderbergh gewann die Goldene Palme, der Film spielte alleine in den USA 25 Millionen ein. Fünf Jahre später landete Weinstein einen noch größeren Coup. Mit Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ durchbrach er die 100-Millionen-Dollar-Marke.
Heute wird jene Zeit als heroische Epoche des Independent-Films betrachtet. Weinstein hatte das Terrain für unabhängige, dem Mainstream ferne Produktionen vorbereitet. Neben Tarantino und Soderbergh machten Regisseure wie Spike Lee, Richard Linklater, Jim Jarmusch,Todd Haynes und Gus Van Sant von sich reden. John Pierson, Autor von „Spike, Mike Spike, Slackers, and Dykes“, einem Buch über den Independent-Film, schreibt über jene Zeit: „Die neuen Filmemacher schwemmten mit viel Verve neue Gedanken über Rasse, Klasse, Politik, Sex und alternative Lebensstile in die amerikanische Kultur.“
So arbeitete sich Spike Lee offensiv am Rassismus von Hollywood ab. Er gründete mit Erfolg seine eigene Produktions- und Vertriebsfirma, 40 Acres And A Mule. Vielen tausend befreiten Sklaven war während des Bürgerkriegs 40 Acres (knapp 20 Hektar) konfisziertes Land und ein Maultier aus Armeebeständen zugesprochen worden – um ihnen nach Ende des Bürgerkriegs und der Ermordung Präsident Lincoln umstandslos wieder weggenommen zu werden. Darauf spielte Lee an, er wollte klarstellen, dass die Produktionsmittel der Unterhaltungsindustrie in schwarze Hand gehörten. Er wollte sichergehen, dass seine Filme ein schwarzes Publikum erreichten. Ein Publikum, das auszuschließen laut Lee im weißen Hollywood Tradition habe.
Ästhetisch markierte der Boom des unabhängigen Films eine Öffnung. Regisseure wie Quentin Tarantino und Jim Jarmusch arbeiteten mit experimentellen Erzählstrategien und einer neuartigen Bilderwelt. Jarmusch wurde wegen seiner langsamen, wortkargen Werke gefeiert; Tarantino setzte die Regeln der Chronologie außer Kraft und machte sich außerdem den Reichtum des B-Films zunutze.
Der überraschende Erfolg solcher Produktionen weckte Begehrlichkeiten in Hollywood. Nicht nur kaufte Disney Miramax, beinahe alle Studios legten sich eine Abteilung für Autoren- und Kunstfilm zu. Es entstand etwas, wofür der Filmjournalist Peter Biskind den Begriff „Indiewood“ prägte. Fox gründete 1994 Fox Searchlights, Sony gründete schon 1992 Sony Classics, und auch Paramount, Universal und Warner gingen mit dem Trend und unterhalten heute so genannte „Signature Divisions“. Alleine Lion’s Gate ist noch wirklich unabhängig. Allerdings sind bei weitem nicht alle Produktionen wirkliche Außenseiter; allein Chris Kentis’ „Open Water“ spielte im vergangenen Jahr 31 Millionen Dollar ein.
Für Puristen wie Peter Biskind ist klar, was das zu bedeuten hat. In seinem Buch „Down and Dirty Pictures – Miramax, Sundance and the Rise of Independent Film“ lobt er Weinstein und den Sundance-Veranstalter Robert Redford zwar dafür, dass sie den Erfolg des Independent-Films einst möglich gemacht haben. Im gleichen Atemzug klagt er sie jedoch an, das unabhängige Kino verraten zu haben. Weinsteins Großproduktionen wie „Cold Mountain“ oder „The Aviator“, die 70 beziehungsweise 80 Millionen Dollar kosteten, seien vom klassischen Studiokino nicht zu unterscheiden. Und Redfords Sundance-Festival, einst ein Ort, an dem sich experimentierfreudige junge Filmemacher versammelten, sei zum Promi-Laufsteg verkommen: eine Werbebühne für die Studios, um ihre neuen Produktionen zu pushen.
Weniger nostalgisch veranlagte Beobachter sehen die Entwicklung differenzierter. Roy Grundmann, Professor für Film an der Boston University, sagt: „Vom Untergang des Independent-Films zu sprechen, ist deshalb so attraktiv, weil sich die Klage klar an einem Marktmodell und Institutionen wie Sundance und Miramax festmachen lässt. Die Wirklichkeit ist jedoch komplizierter. Der US-amerikanische Filmmarkt verändert sich ständig, und obwohl Hollywood schon lange die Indies für sich selbst einnimmt, kann man nicht behaupten, dass es keine Nischen für unabhängige Produktionen mehr gibt. Und ebenso wenig stimmt es, dass diejenigen, die gemacht werden, ausnahmslos radikal vom Hollywood-Modell abweichen.“
Es gibt ihn also noch, den unabhängigen Film, nur ist man sich in der neuen Filmlandschaft nicht mehr so recht einig, was das heutzutage ist. Wenn Hollywood erfolgreich Indies produziert und vertreibt, so ist dies nicht nur ein vollendetes Paradox, es hat auch die Kategorien kräftig durcheinander gewirbelt. Geoffrey Gilmore, Co-Direktor des Sundance-Festivals, nimmt das Festival gegen Kritik in Schutz, indem er die Gültigkeit der Unterscheidung von Mainstream und Independent in Frage stellt: „Ist ein Indie ein Film, der von einem unabhängigen Vertrieb auf den Markt gebracht wird? Das disqualifiziert die Filme der Studio-Indies. Ist es ein Film von einem unabhängigen Filmemacher? Viele Regisseure produzieren sowohl für Studios als auch für Independents. Muss das Geld aus unabhängigen Quellen stammen? Es gibt nichts Absurderes, als einen Film für unabhängig zu halten, wenn das Geld von einer Investmentbank anstatt von einem internationalen Medienkonzern kommt. Ist es ein Film, bei dem die kreative Kontrolle vollständig beim Filmemacher liegt? Dann wäre Steven Spielberg der größte Indie-Regisseur aller Zeiten.“
Weder der Begriff „Independent“ noch die Dichotomie Independent vs. Mainstream werden den Komplexitäten der heutigen Filmlandschaft gerecht. Laut Michelle Byrd, der stellvertretenden Direktorin der Interessengemeinschaft „Independent Film Project“, ist „unabhängig“ weder formal, noch ästhetisch, noch politisch eine einheitliche Bewegung. Eine gewisse Einheitlichkeit habe die „Indie-Szene“ vielleicht vor 15 Jahren gehabt, so Byrd, als sie von dem Drang, der Einheitsware aus Hollywood etwas entgegenzusetzen, getrieben war. „Man kann die Türen aber nur einmal einrennen“, sagt Byrd – und ergänzt: „Viel mehr Menschen bekommen heute eine eine größere Vielfalt an Filmen zu sehen.“ Die Indiewood-Produktionen laufen im ganzen Land; in New York starten in jeder Woche zwölf Produktionen, die nicht aus den Studios kommen. Diese allerdings finden im Rest der USA nur ausnahmsweise ein Publikum.
Der Marsch durch die Studio-Institutionen hat Spuren hinterlassen. Immer häufiger haben Großproduktionen mit Stars nicht mehr den gewünschten Kassenerfolg. Hollywood hat sich selbst unterwandert, indem es das Nischen-Kino in sich aufgenommen hat. Das Publikum lässt sich nicht mit Massenware abspeisen, der Markt differenziert sich aus. Das musste nicht zuletzt Harvey Weinstein erleben, als „Aviator“ kaum das Geld einspielte, das er gekostet hatte. Weinsteins erste Post-Miramax-Produktion zusammen mit seinem Bruder war die vergleichsweise bescheidene Produktion „Sin City“, die Adaption eines Comics von Frank Miller, inszeniert von Miller selbst und Robert Rodriguez. Weinstein besinnt sich auf seine Indie-Wurzeln. Oder besser: Er passt sich an den neuen Markt an, den nicht zuletzt er selbst geschaffen hat.