: „Wir werden wie Ausgestoßene behandelt“
ERINNERUNG Die Regierung hat kein Interesse, den Opfern des Blutbades von Beslan zu helfen, sagt die Menschenrechtlerin Ella Kessajewa
46, bangte um ihre Tochter Zarina. Die Mikrobiologin wurde eine der Gründerinnen der „Mütter Beslans“, heute „Die Stimme Beslans“.
INTERVIEW BERNHARD CLASEN
taz: Frau Kessajewa, Sie haben 2004 um ihre 13-jährige Zarina gezittert, die eine der Geiseln war. Wie leben Sie heute?
Ella Kessajewa: Diese Erinnerungen prägen mein Leben. Ich hoffe aber, dass unsere Arbeit Früchte trägt. Gerade wir Opfer müssen unsere Passivität ablegen, für unsere Rechte kämpfen. Die Passivität der Gesellschaft ist eine Ursache des Terrors.
Wie geht es den Kindern?
Viele weinen, leiden an Depressionen. Wir müssen dafür kämpfen, dass sich Derartiges nicht wiederholt und die Machthabenden begreifen, dass man auf Geiseln nicht schießen darf.
Und wie geht es Zarina?
Meine Tochter ist heute 17 Jahre alt und wie fast alle ehemaligen Geiseln krank. Sie besucht die Schule, in den Ferien lässt sie sich medizinisch behandeln.
Wie ist die Betreuung?
Es gibt bei uns kostenlose medizinische Behandlung, doch auf niedrigem Niveau. Nur durch Spenden habe ich Zarina helfen können. Eine Niere hat sich um vier Zentimeter verkleinert. Ihr Sehvermögen ist eingeschränkt, eine Folge der Explosionen.
Sie haben „Die Stimme Beslans“ mitgegründet. Mit welchem Ziel?
Wir kämpfen, dass eine neue Untersuchung eingeleitet wird. Keiner der Mitarbeiter des Einsatzstabes wurde zur Verantwortung gezogen. Als man bei der Stürmung der Turnhalle mit Panzern und Granatwerfern feuerte, war sie voller Geiseln. Nur einem einzigen überlebenden Terroristen, Nurpascha Kulajew, wurde der Prozess gemacht. Zu viele Fragen blieben offen. Wir kritisieren, dass diejenigen, die den Beschuss zu verantworten haben, nicht vor Gericht standen.
Wie reagiert die Regierung?
Der Staat geht uns aus dem Weg. Als Präsident Medwedjew im August in Südossetien war, wollte wir ihm einen Brief überreichen. Doch der Sicherheitsdienst hat das verhindert. Wir werden wie Ausgestoßene behandelt. Die Kinder sind heute fast alle krank. Doch in ihren Krankenakten heißt es, sie seien vorher krank gewesen. Das zeigt, dass man vor den Folgen die Augen verschließt.
Was sind Ihre Forderungen?
Wir wollen, dass die Opfer von Beslan und die weiteren Opfer anderer Anschläge vom Staat Hilfe erhalten. Wir wollen, dass die Eltern der Getöteten eine Rente bekommen. Damit es auf diese Hilfe einen Rechtsanspruch gibt, fordern wir ein Gesetz zum Status von Opfern.
Wie wollen Sie das erreichen?
Wir haben uns mit mehr als 60 Klagen an alle Instanzen gewandt. Das ist der Weg, um für unsere Rechte zu kämpfen.
Wie sieht die Schule heute aus?
Wir wollten, dass die Schule als Ruine erhalten wird. Und wir waren erfolgreich. In Zusammenarbeit mit der deutschen Firma KnaufKassel soll sie nun konserviert werden.
Hat sich das Verhältnis zwischen Osseten und Inguscheten verschlechtert? Viele der Terroristen sollen ja Inguscheten gewesen sein.
Während des Prozesses gegen Nurpascha Kulajew forderten viele die Todesstrafe. Wir lehnen sie ab. Rache ist ein falscher Weg. Wir denken, dass Nationalität oder Glauben von Terroristen nicht wichtig sind. Wenn dies so wäre, dann müsste man auch nach der Nationalität der Panzerbesatzungen fragen. Die Tragödie muss uns alle vereinen, unabhängig von Glauben und Nationalität.
■ Als am 1. September 2004 im 36.000 Einwohner zählenden nordossetischen Beslan die Einschulung gefeiert wurde, drangen 32 inguschetische und tschetschenische Aufständische in die Schule ein und nahmen über 1.200 Kinder und Erwachsene als Geiseln. Die Terroristen töteten mehrere Eltern vor den Augen ihrer Kinder. Nicht weniger erbarmungslos war die Reaktion der russischen Regierung. Sie weigerte sich, mit den Geiselnehmern zu sprechen und zu verhandeln, stattdessen griffen am 3. September Sicherheitskräfte mit Panzern und Granatwerfern die Schule an. Dabei starben 314 Menschen, über 700 wurden verletzt. Die Terroristen hatten 17 Menschen getötet. (cla)
Wie reagiert der Staat auf Ihre Kritik?
Heute wird viel von der Bedrohung durch Terrorismus gesprochen. Doch daraus wurden keine Lehren gezogen. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass es auch anderswo Anschläge gebe, die sich auch nicht verhindern ließen. Dies zeigt, dass man nicht nach den Wurzeln sucht. Hierin zeigt sich eine Verantwortungslosigkeit. Ein Menschenleben bedeutet in Russland nicht viel.
Sie haben einmal gesagt, Terror und Staatsterror würden sich gegenseitig bedingen?
Zuerst haben die Terroristen Geiseln genommen. Das war Terror. Doch der Beschuss durch Streitkräfte war Staatsterrorismus. Wer auf ein Gebäude mit Kindern schießt, begeht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das muss man untersuchen. Doch niemand tut das, Richter und Staatsanwälte sind selbst Teil der Macht. Sofort nach der Katastrophe haben wir uns als Zeugen zur Verfügung gestellt. Und wir waren geschockt, als man uns der Lüge bezichtigte. Da begann unser Konflikt mit den staatlichen Machtstrukturen.
Vor kurzem wurde in Tschetschenien die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa ermordet. Haben Sie sie gekannt?
Ja, wir haben uns mit ihr oft getroffen. Wir arbeiten auch mit anderen Menschenrechtlern aus Dagestan, Tschetschenien, und Inguschetien zusammen. Der Mord war für mich ein Schlag.
Was erwarten Sie von den NGOs im Westen?
Wir würden uns freuen, wenn uns die westlichen Zivilgesellschaften mehr einbeziehen würden. Niemand kann über die Lage im Nordkaukasus besser berichten als wir. Gleichzeitig haben westliche NGOs Erfahrungen, die wir nicht haben. Wir würden uns freuen, wenn wir davon lernen könnten. Und ein Letztes: Vergesst unsere Kinder nicht. Sie brauchen medizinische und psychologische Hilfe.