: Das Auge von Amsterdam
STADTERWEITERUNG Das neue Filmmuseum von Amsterdam, das den abgehängten Norden der Stadt entwickeln soll, hat das Zeug zur Attraktion der niederländischen Hauptstadt
VON KLAUS ENGLERT
Touristen mögen an Amsterdam die Grachten, die von alten Wohnhäusern mit schmucken Giebeln gesäumt sind. Deswegen wurde die Altstadt in den letzten Jahrzehnten wie der Schatz eines Museums gehütet. Anders verhält es sich mit den weniger wandlungsresistenten Randzonen, wo so mancher Architekt nach Herzenslust seine verwegensten Entwürfe realisieren konnte. Das begann Ende der neunziger Jahre, als die Wohnhäuser auf dem Borneo-Kai der Oostelijke Handelskade alsbald zum Mekka für internationale Architekturfans wurden.
Aus den Fluten des Ij
Diese Tendenz setzte sich fort, als der westliche Holzhafen ins Visier der Stadtplaner geriet und das Rotterdamer Büro MVRDV am Silodam einen Gebäuderiegel errichtete, der wie ein Containerschiff aus den Fluten des Ij ragt. Schließlich entstanden die Revitalisierungsprojekte im südlichen Problemviertel Bijlmermeer, wo man durch partiellen Rückbau der Trabantensiedlung das Zusammenleben der ehemals ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen deutlich verbessern konnte. Und in Zuidas wuchs in den letzten Jahren ein Business Center heran, in dem zahlreiche internationale Architekten ihre Lust auf Skyscraper austobten, die in der Altstadt aus Denkmalschutzgründen strikt verboten sind.
Nur Amsterdams Norden fehlte bislang in den Stadterweiterungsstrategien der Planer. Das hatte einen einfachen Grund. Denn das Areal auf dem anderen Ij-Ufer gehörte dem Shell-Konzern, der allerdings vor einigen Jahren das Grundstück, auf dem sich früher die Werftanlagen und die Wohngebiete der Hafenarbeiter befanden, an die Stadt verkaufte. Geblieben sind der in die Jahre gekommene Overhoeks-Turm und ein aufgeständerter Pavilloncluster, während die abgerissenen Industrieanlagen eine riesige Brache hinterließen.
Die Stadtverwaltung entschied sich für eine Gentrifizierung mit hochwertigem, verdichtetem Wohnungsbau, vergleichbar mit der Bebauung des östlichen KNSM-Kais. Nur setzte man diesmal auf klangvolle Namen und verpflichtete Jo Coenen und Mecanoo, ebenso den Portugiesen Alvaro Siza und den Briten Tony Fretton. Gleichzeitig beschwor man Frits van Dongens „The Whale“, einen schimmernden, von internationalen Hochglanzmagazinen gepriesenen Wohnblock in Gestalt eines Wals, der die Entwicklung der Oostelijke Handelskade antrieb.
Diesen Prozess galt es im Norden Amsterdams zu wiederholen. Deswegen wurde 2005 ein Wettbewerb für ein neues Filmmuseum ausgelobt, dem man zutraute, durch seine Strahlkraft das bislang abgeschnittene Overhoeks-Viertel besser an die Innenstadt anzubinden. Gewinner waren die Wiener Architekten Delugan Meissl, deren Avantgarde-Nimbus man zutraute, das verödete Overhoeks mit neuem Leben zu füllen.
Das dürfte nicht einfach sein, denn die Amsterdamer sind es gewohnt, in den denkmalgeschützten Grachtenvierteln der Altstadt auszugehen. Aber den Österreichern Elke Delugan Meissl und Roman Delugan dürfte es gelungen sein, das skulptural geformte EYE Film Institut, dessen Alu-Sandwichpaneele sich in den Wellen des Flusses IJ reflektieren, zur neuen Attraktion der Hauptstadt gemacht zu haben. Wer künftig den Nordausgang aus dem modernisierten und erweiterten Hauptbahnhof wählt, dem dürfte die signethafte Wirkung des EYE sofort ins Auge springen.
Völlig neues Kino
Delugan Meissl haben gekonnt den holländischen Trend zu mehr öffentlichem Raum bedient. Zweifellos ist das die Stärke dieser beeindruckenden Stahlkonstruktion. Elke Delugan Meissl meinte dazu, sie habe „ein völlig neues Kino entwerfen wollen, das gegenüber den gewohnten Multiplexen einen deutlichen Mehrwert schafft“. Das lässt sich bereits an der dynamisch gestalteten hölzernen Rampe ablesen, die den Besucher nicht nur ins Foyer des schlanken, kristallin weißen Baukörpers geleitet, sondern ebenso auf eine öffentliche Terrasse, die sich als flusszugewandte Schauseite des Filminstituts präsentiert.
Die Terrassenlandschaft setzt sich im Innern in der „Arena“ fort, einem einzigartigen, bühnenartigen Raum, der nicht nur als Nahtstelle zu den Kinosälen und zum Ausstellungsbereich dient, sondern auch als zwangloser Kommunikationsraum allen Nicht-Cineasten offensteht. Die „Arena“ erweist sich als multifunktional gestaltete Raumlandschaft, die in Amsterdam seinesgleichen sucht: Auf der einen Seite öffnet sie sich zum Wasser, auf der anderen führen die hölzernen Rampen unter der gefalteten Deckenstruktur zu überraschenden Zwischenebenen: „Diese Architektur ermöglicht Aufführungen, die an kein festgelegtes Programm gebunden sind.“
Elke Delugan Meissl hält das dem dynamischen Entwurf zugute, der sich nicht nur an der Fassade, sondern auch an den „Bewegungsräumen“ im Innern ablesen lässt. Zwar sind die vier Kinosäle zumeist konventionelle Blackboxes, aber ihre Lage gehorcht einem unkonventionellen Bewegungsfluss, der eine gewisse Neugier auf Raumerkundungen wecken möchte.
Das EYE Film Institut liefert dem Kino nicht einfach ein Gehäuse, es versetzt Film und Architektur in eine spannungsvolle Beziehung. Die Räume erschließen sich erst dann vollends, wenn man sie genussvoll durchstreift. Das zeigt sich vor allem am Ausstellungsraum, dessen labyrinthische Struktur und dynamische Schrägen an Robert Wienes „Kabinett des Dr. Caligari“ erinnern.
Natürlich profitiert Amsterdams „Auge“ über dem Ij-Ufer von der wiederentdeckten Lust an der „Waterstad“. Ob es bis in die Altstadt ausstrahlt und zum neuen kulturellen Hotspot wird, bleibt allerdings abzuwarten.