: Große Männer singen höher
KOMISCHE OPER Stefan Herheim hat „Xerxes“ von Georg Friedrich Händel neu inszeniert. Sein Welttheater in den Kulissen des 18. Jahrhunderts bietet vollendete Gesangstechnik und ist zugleich radikal gegenwärtig
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Es war die letzte Premiere der Saison und die letzte der Ära von Andreas Homoki an der Komischen Oper. Auch Dankbarkeit mag sich deshalb am Sonntagabend in den Applaus gemischt haben, der gar nicht mehr enden wollte. Vergessen die Zeit, in der die kleinste der drei Berliner Opern unter dem Vorbehalt stand, dass sie nun mal nicht konkurrenzfähig sei, wenn es um die Qualität der Stimmen geht. Mit „Xerxes“ von Georg Friedrich Händel, inszeniert von Stefan Herheim, Heike Scheele und Gesine Völlm, ist sie ganz oben angekommen. Große Oper ist das, was hier zu hören und zu sehen ist, im vollen Sinne des Wortes, das ja vor allem das Erlebnis der emotionalen Erschütterung bezeichnet, wenn wir in den Spiegel unserer Leidenschaften blicken, den die großen Werke dieser Gattung uns vorhalten.
Das gelang ausgerechnet mit „Xerxes“, Händels letzter Oper, die eigentlich nicht zum Kanon der Meisterwerke gehört, sondern eher der Versuch ist, die Krise zu bewältigen, in die Händels Produktion geraten war. Man mochte in London seine nach italienischem Vorbild in Serie gefertigten Stücke nicht mehr. Händel versuchte, das starre Formschema zu lockern, dramatischer und subjektiver zu werden. Doch es gelang ihm nicht so recht, weil er zu einem Stoff griff, der selbst seinen Zeitgenossen ein bisschen wirr vorkam, freundlich ausgedrückt. Zwei Brüder, eine verlassene Geliebte und zwei Schwestern spielen das Repertoire unseres Paarungsverhaltens durch, das bekanntlich neben sexueller Lust vor allem Eifersucht, Betrug, Arglist und Gewalt enthält.
Herheim war das nur recht. Er wischt mit einem genialen Schachzug alle Fragen nach der Bedeutung für die Gegenwart weg, indem er sie einfach umdreht: Was sind wir in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts? Wir sind Xerxes, Arsamanes, Romilda und wie sie alle heißen, haben Sopranstimmen, besonders hohe, wenn wir besonders mächtige Männer sind, und spielen verzweifelt unsere Rollen auf einer Bühne, die alle multimedialen Installationen weit hinter sich lässt an Pracht und Glanz. Genderfragen und poststrukturalistische Theorien des Begehrens sind alle geklärt, das physische Geschlecht ist völlig bedeutungslos, alles beginnt mit einem Liebeslied an eine – Platane.
Die Melodie ist als „Händels Largo“ bekannt, in Wirklichkeit hat Händel sie von einem andern Komponisten abgeschrieben und nur eine Terz tiefer gesetzt für seinen damaligen Kastratenstar. Tatsächlich lässt Stella Doufexis für den ersten, endlos lang gehaltenen Ton das natürliche, weibliche Timbre ihrer Stimme weg. Ein glasklarer, anschwellender Ton ist stattdessen zu hören, der sich dann einlässt in die Folge der Intervalle, ohne sie jemals mit emotionalem Druck zu überladen. So klingt es, wenn musikwissenschaftliche Korrektheit mit vollendeter Gesangskunst zusammenfällt. Und Stella Doufexis steht nicht allein: Caroline Gumos, Brigitte Geller, Katarina Bradic und Julia Giebel halten mühelos mit, ebenso wie der Bass Dimitry Ivashchenko und der Bariton Hagen Matzeit, der auch als Countertenor überzeugt. Kaum zu glauben, dass alle zum festen Ensemble gehören und daher, wie es unter Homokis Intendanz zur Einstellungsbedingung geworden ist, nicht nur singen, sondern auch ausgezeichnet schauspielern können.
Die Bühne, die ihnen Heike Scheele dazu gebaut hat, ist ein einziges Märchen der Kulissenmalerei. Szene für Szene entstehen neue, bewegliche Bilder, oft sind es himmlische Wölkchen mit Putten oder das Ufer der stürmisch wogenden Dardanellen, stets eingerahmt durch einen zur Seite gerafften roten Vorhang: Wir sind im Theater aller Theater, weswegen für die Kostüme nahezu alles erlaubt ist, möglichst in Gold und Silber, von üppigsten Damenroben über Waffenröcke bis zu Korsett und Unterwäsche.
Doch Herheim hat bei all dem Zauber seiner Ausstattungsshow nie das Theater vergessen. Es sind keine Puppen auf der Bühne, sondern Menschen, die weit über die absurde Dramaturgie des Textes hinaus ihre heftigen Gefühle artikulieren. So lügen, lieben, jammern sie fast drei Stunden weg ohne Scheu vor Klamauk oder Obszönität und nehmen auch mal das Orchester in ihr Spiel hinein. Der Anschein einer kunstgewerblichen Rekonstruktion der Vergangenheit täuscht. Denn Herheims Theater ist radikal gegenwärtig, weit mehr als viele Aktualisierungen historischer Werke. Danach müssen wir ernsthaft damit rechnen, dass wir genauso irre sind wie diese Irren, die Händel singen.
■ Nächste Aufführungen: 17., 19., 23., 24., 27. Mai