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Archiv-Artikel

Keiner wusste von den Vorstrafen

PROZESS Rückfälliger Sexualtäter steht vor Gericht – der Pädosexuelle arbeitete an einer Grundschule

Der Träger war nicht verpflichtet, ein erweitertes Führungszeugnis zu verlangen

„Affi“ kommt mit in den Gerichtssaal, er soll Natalie* Mut machen. Doch dem Plüschäffchen mit dem blauen Kleid gelingt es nicht, seiner 11-jährigen Besitzerin die Scham vor den vielen Juristen zu nehmen und ihnen zu erzählen, was sie schon vor zwei Monaten einer Ermittlungsrichterin schilderte: dass sich Winfried K. ihr im vergangenen Jahr mehrfach in sexueller Absicht genähert haben soll.

Auch die damals 12-jährige Melanie* soll zu den neuen Opfern des zweifach vorbestraften Sexualtäters gehören, der 1992 für sechs Übergriffe zu drei Jahren und 1999 für fünf Taten zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden war. Das Gericht sprach ihm damals ein unbefristetes Beaufsichtigungsverbot für Kinder aus, zudem stand K. bis 2008 unter Führungsaufsicht. Regelmäßig musste er sich bei einem Bewährungshelfer melden und dem Gericht nachweisen, dass er eine Gruppentherapie für pädophile Männer bei „Kind im Zentrum“ besucht.

„Das hat er getan“, sagt Staatsanwalt Veit Hochberg. Im Schuljahr 2008/09 bekam der Pädophile eine ABM-Stelle als Hausmeister an der Paavo-Nurmi-Grundschule in Marzahn. Nach Recherchen des Fernsehsenders RTL erfolgte der Einsatz über einen privaten Träger, der damals aber nicht verpflichtet gewesen war, von seinen Mitarbeitern ein erweitertes Führungszeugnis zu verlangen. Eine entsprechende Gesetzesänderung des Bundeszentralregistergesetzes erfolgte erst im Mai 2010.

So war es für den heute 54-Jährigen auch kein Problem, dann bis zu seiner Verhaftung im Dezember 2011 beim Nachbarschaftszentrum „Kiek mal“ zu arbeiten – das berichtet Kathleen T., Natalies Mutter. „Und oben drüber“ – gemeint ist das Nachbarschaftszentrum – „ist auch noch eine Kindertagesstätte!“ Zwar habe sie Winfried K. weder über die Grundschule ihrer Tochter noch über das Nachbarschaftszentrum kennengelernt, doch verstärkten diese Tätigkeiten bei ihr den Eindruck vom soliden Nachbarn, der vor fünf Jahren mit seiner Lebensgefährtin, einem Stiefsohn und seiner gerade geborenen leiblichen Tochter in die Wohnung unter ihr zog. Er habe einen „auf netten Onkel“ gemacht, man habe zusammen gequatscht und gefeiert, Natalie kümmerte sich gern um seine kleine Tochter. Als Kathleen T. hörte, ihr Nachbar sei ein vorbestrafter Sexualtäter, fragte sie ihn danach. Er habe bestritten, sie habe ihm vertraut: „Man soll ja nicht Gerüchten glauben.“

Wie aber schützt die Justiz potenzielle Opfer? „Das Gericht hat nur schmale Möglichkeiten, jemanden zu einer Verhaltensänderung anzuleiten“, sagt Silke Becker, Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft. Die Einhaltung von Weisungen und Auflagen während der Führungsaufsicht werde vom Gericht kontrolliert, eine Zuwiderhandlung kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Doch was ist, wenn diese Zeit verstrichen ist? Dann muss es wohl erst wieder neue Opfer geben. Im Fall Winfried K. werden es wahrscheinlich die letzten gewesen sein. Ihm droht jetzt die Sicherungsverwahrung. UTA EISENHARDT

* Name geändert