: Sachlich überspannt
Im Kunstverein Braunschweig zeigt Christopher Williams seinen Werkzyklus „For Example: Dix-Huit Leçons Sur La Societé Industrielle (Revision I)“
VON ESTHER BUSS
Mit der Erkenntnis, dass in jeder scheinbar noch so objektiven Darstellung immer auch subjektive Wahrnehmung steckt, lässt sich heutzutage keine Katze mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Dass die Frage nach der getreuen Wiedergabe von Realität aber noch immer ein interessanter Ausgangspunkt für fotografische Unternehmungen sein kann, zeigt derzeit eine Ausstellung des US-amerikanischen Künstlers Christopher Williams im Kunstverein Braunschweig.
Williams, seit Beginn der Achtzigerjahre ein Protagonist der Konzeptkunst aus Los Angeles, bezieht sich in seinem neuen Werkzyklus auf die Fotografie der Neuen Sachlichkeit. Vor allem heftet er sich an die Fersen von Albert Renger-Patzsch, der in den Zwanzigerjahren neben August Sander und Karl Blossfeldt das Projekt einer objektiven Kategorisierung der „Dinge der Welt“ verfolgte. Sein Verfahren erzeugte jedoch den gegenteiligen Effekt: Die isolierte Darstellung von Architektur, Artefakten et cetera und deren Anordnung in Serien brachte eine starke Ästhetisierung mit sich. Die vermeintlich rein sachbezogene „Aufzeichnung“ erzeugte fetischistische Prachtstücke.
In seinen technisch perfekten Fotografien betreibt Williams dagegen eine Art Neue Sachlichkeit zweiter Ordnung. Er eignet sich die bildnerischen Verfahren seiner Vorgänger an, um Irritationen einzufügen, die wie ein mitunter sehr humorvoller Metatext funktionieren. Zwei Fotografien balinesischer Tänzerinnen etwa erscheinen nur auf den ersten Blick identisch. Tatsächlich wurden sie mit einer zweiten Kamera leicht zeitverzögert aufgenommen. Merkwürdig verrutscht erscheint auch eine Serie von Schwarzweißporträts, auf denen ein Model sich unter der Dusche die Haare shampooniert. Was zunächst an Werbefotografie der Fünfzigerjahre erinnert, in der das Konsumversprechen noch ungebrochen scheint, stellt sich als eine Täuschung heraus. Trotz der stilisierten Pose vermag das Model den Glauben an die Warenwelt nicht überzeugend zu verkörpern. Mal sind Blick und Minenspiel erwartungsvoll, mal kritisch, dann melancholisch. Auch fallen kleine Makel auf, Schaum am Kinn oder eine Hautunreinheit.
Bevor er seine Bilder von professionellen Fotografen anfertigen ließ, arbeitete Williams zunächst mit Bildmaterial aus Museen und Bibliotheken, aus Zeitschriften und Agenturen. Oft finden sich Verweise auf das Medium Fotografie und ihrer Produktionsbedingungen. Eine Bildfolge zeigt einen Fotoapparat, von verschiedenen Seiten fotografiert, als handele es sich um eine Skulptur im Museumsführer.
In den detailreichen Bildtiteln, die Informationen wie Größe, Herstellungsverfahren, Ort und Zeit der Aufnahmen beinhalten, entwickelt sich das Gerangel um Objektivität zu einem unterhaltsamen und fast grotesken Spiel. Die Aufnahme eines Postpakets trägt beispielsweise den Titel: „Packset (small 25 x 17 x10 cm), Deutsche Post, Euro Express (Kleben Sie den ausgefüllten Versandschein hier auf. Lassen Sie sich beraten und wählen Sie die beste Versandart für Ihr Packset)“. Sehr sachlich, aber doch ziemlich extravagant.
Auch wenn der Ausstellungstitel direkt ausspricht, dass es sich bei den Fotografien um „Lektionen“ zum Thema Industriegesellschaft handelt, wird hier weder Wissen angekarrt oder verwaltet noch eine Kunst der Recherche betrieben. Denn warum sich nun ausgerechnet ein Kölner Blumenstand unter die haarewaschenden Frauen und fotografischen Apparaturen mischen, lässt sich nicht restlos aufklären. Referenzen werden in alle Richtungen ausgestreut und sollen verfolgt werden, aber ohne Masterplan oder Auflösung im begleitenden Pressetext, wie das in Ausstellungen sonst so häufig der Fall ist. Vielmehr tritt hinter all den schönen Fotografien eine ziemlich verzweigte Erzählung mit zahlreichen Anekdoten zum Vorschein, die mal ganz ernsthaft an einem Thema dran ist, dann aber die einmal eingeschlagenen Pfade auf kauzige Art auch wieder verlässt.
Wenn Williams alle Türen der Ausstellungsräume aushängt und abwechselnd mit der Vorder- beziehungsweise Rückseite nach oben auf kleine Klötzchen in die Raummitte platziert, setzt sich das Moment unterschiedlicher Blickwinkel und perspektivischer Drehungen fort, das auch für die Bildserien bestimmend ist. Einen ganz anderen Sinn ergibt dieser Eingriff in die Ausstellungsarchitektur aber erst in Kombination mit den Titeln. Durch die pedantische Inventarisierung der Räume, die Auflistung von Flurtür, Bürotür, Rotundentür, Gartensaaltür et cetera wirkt das Verfahren der sachlichen Aufzeichnung plötzlich wie ein überspannter Einfall.
Bei aller Medienreflexivität und dem Bewusstsein für historisches Gepäck scheint sich Christopher Williams seinen persönlichen Vorlieben gern hinzugeben. Genau das macht den Reiz dieser Ausstellung aus.
Bis 24. Juli, Katalog (Buchhandlung Walther König), 19,80 €