piwik no script img

Die Angst des Amtmannsvor den Akten

In einem Bremer Sozialzentrum tauchten 1.700 unbearbeitete Akten auf. Der ökonomische Schaden hält sich offenbar in Grenzen, doch die CDU zählt die grüne Senatorin an

Papier ist geduldig, und wartet, zu Akten gebündelt, auch Jahre auf seine Bearbeitung Foto: Stephanie Pilick/dpa

Von Jan Zier

Mehr als tausend vergessene Akten: Das sah zunächst schon nach einem handfesten Skandal in Bremen aus, und das so kurz vor der Wahl; nach einem Rücktrittsgrund für die grüne Sozialsenatorin Anja Stahmann. Und dann hat sie der Opposition auch noch gesagt, im Parlament sogar, man möge doch bitte die Füße still halten, also: bis zum 14. Mai. Dann ist Wahltag.

Die CDU schäumt! Sogar von einem „System Stahmann“ ist dort die Rede, und davon, dass die Missstände „selbstverursacht“ und „aufs Engste mit der Senatorin persönlich verbunden“ seien. Sie trage die „fachliche und politische Verantwortung“, erklärt die CDU.

Was ist passiert? Im einem für drei Stadtteile zuständigen Sozialzentrum fanden sich kürzlich 1.700 Akten mit etwa 3.000 „nicht abschließend bearbeiteten“ Vorgängen, wie das Sozialressort einräumen muss. Und sie fanden sich eher etwas zufällig, in verwaisten Büros. Neben den Akten gab es etwa 20 Ordner mit Posteingängen, die zwar geöffnet und eingangsgestempelt waren, dann aber liegen blieben.

Die Akten betreffen alle die „wirtschaftliche Jugendhilfe“ (WJH), die sich um ambulante, stationäre und teilstationäre Jugendhilfeleistungen oder um die Zahlung von Pflegegeld kümmert. Da geht es um die rechtliche, aber vor allem um die finanzielle Umsetzung von Hilfen für Kinder und Jugendliche: um Kostenzusagen, Bescheide und Abrechnungen.

„Bei einem großen Teil“ der Akten handele es sich um Unterlagen von „offenbar längst eingestellten oder gar nicht erst bewilligten Unterhaltsvorschuss-Zahlungen“ aus den Jahren vor 2017. Das ergab eine erste Sichtung der Innenrevision, eine behördeninterne Prüfinstanz, die nun mit vier Personen in zwei Teams die Aktenberge prüft. Ob daraus finanzieller Schaden für die Stadt entstanden sein könnte, „ließ sich bislang nicht klären“, sagt der Sprecher des Sozialressorts.

Die Behörde verspricht, dass die Aufklärung „auf Hochtouren“ läuft, erstmals unterrichtet wurde die Sozialdeputation der Bürgerschaft im Februar, im März gab es binnen sieben Tagen gleich zwei Sitzungen zu dem Thema. Die FDP „kann nur den Kopf schütteln“, während die mitregierende SPD das Sozialressort für schnelles Handeln lobt. Die CDU beantragt unterdessen Sondersitzungen, eine Aktuelle Stunde in der Bürgerschaft und schrieb der Behörde einen über 70 Fragen langen Katalog mit kurzer Beantwortungsfrist, die die Behörde jetzt noch gar nicht alle beantworten kann. Das diene mehr dem CDU-Wahlkampf als der Aufklärung, heißt es aus der Behörde, und binde personelle Ressourcen, was die Aufarbeitung der Akten nicht eben beschleunige. Man solle die Innenrevision „solide arbeiten und berichten lassen“, trotz des Wahltages am 14. Mai, bittet die Behörde.

Und während die CDU von anonymen Hinweisen auf ähnliche Probleme in anderen Sozialzentren spricht, geht das Ressort davon aus, dass „eine vergleichbare Situation in einem dieser fünf anderen Ämter „ausgeschlossen werden kann“ – die CDU findet das „erstaunlich“, diesen „Freispruch in eigener Sache“. Rückstände bei der Postbearbeitung träten zwar auf, entgegnet das Ressort, würden aber trotzdem „adäquat“ abgearbeitet.

Die Arbeit im Amt für Soziale Dienste werde „herabgewürdigt“, klagt der Personalrat

Strukturelle Probleme gibt es trotzdem. Beim Personal in der wirtschaftlichen Jugendhilfe des betroffenen Sozialzentrums war zuletzt ein Drittel der Stellen unbesetzt, seit 2018 konnten nur für die Hälfte aller ausgeschriebenen Jobs auch Mit­ar­bei­te­r:in­nen gefunden werden. Das ist in einem der Sachstandsberichte zu lesen. Demnach seien wegen des Fachkräftemangels offene Stellen schwer zu besetzen, entsprechend zeitaufwändig die Verfahren.

Im konkreten Fall gab es laut Bericht im vergangenen September die erste Überlastanzeige, im Oktober wurde geprüft, ob eine Aushilfskraft eingestellt werden könne. Im Dezember nahmen die Beschwerden der Jugendhilfeträger zu. Bis Staatsrat Jan Fries (Grüne) „die erste ausführliche schriftliche Information zum Gesamtvorgang“ von der Jugendamtsleitung erhielt, wurde es Februar. Seit 2020 gab es im Bereich WJH jenes Sozialzentrums elf Überlastanzeigen.

Mark Birnstiel, zuständiger Personalratsvorsitzender, widerspricht dem Vorwurf eines „groß angelegten Verwaltungsversagens“, auch wenn ganz offensichtlich Dinge in der Vergangenheit schiefgelaufen seien. „Nichts soll beschönigt werden“ – an Spekulationen oder einem Schnellschuss wolle sich der Personalrat aber nicht beteiligen. „Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen leisten unter schwierigen Verhältnissen in angespannter Situation ihr Tagesgeschäft“, so Birnstiel, und das obwohl sie „den Medien entnehmen können, dass ihre Arbeit herabgewürdigt wird – auf sehr geringer Daten- und Wissensbasis“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen