: „Deutschland kann mehr“
Unions-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble über Ehrlichkeit im Wahlkampf, konservative Botschaften und die Zukunft der EU
INTERVIEW BETTINA GAUS
taz: Herr Schäuble, fragt Angela Merkel Sie in diesen Tagen um Rat?
Wolfgang Schäuble: Wir sind so viel in den Gremien von Partei und Fraktion zusammen, dass wir in ständigem Kontakt stehen und ich oft – gefragt und ungefragt – meine Meinung sage. Allerdings soll man sich gerade als Vorgänger auch nicht aufdrängen.
Falls die Union die Wahlen gewinnt – was würden Sie gerne werden?
Ich bin in einem ungewöhnlichen Maße von solchen Überlegungen frei. Das beschäftigt mich nicht.
Welches sollte Ihrer Ansicht nach der zentrale Begriff sein, mit dem die Union in den Wahlkampf zieht?
Die zentrale Botschaft muss lauten: Wir müssen uns mehr anstrengen, wir können mehr leisten, und dann geht’s auch wieder aufwärts. Dieses Deutschland kann mehr. Es tut einem ja richtig weh, wie weit wir zurückgefallen sind – im Bildungssektor oder beim Pro-Kopf-Einkommen auf europäischer Ebene, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Wie konkret sollte denn die Wahlplattform sein?
Sie muss in ausgewählten Bereichen exemplarisch die Richtung einer unionsgeführten Regierung deutlich machen, aber sie sollte kein detailliertes Regierungsprogramm darstellen. Darüber sind wir uns innerhalb der Union auch einig.
Bisher passen Gesundheitspolitik und Steuerpolitik der Union noch nicht so recht zusammen. Lässt sich das vor der Wahl noch ändern, oder sollte man erst danach durchrechnen, was geht und was nicht geht?
Wir werden den genauen Inhalt der Wahlplattform bis zum 11. Juli in Beratungen festlegen. Ich halte es für richtig, dass wir uns den Raum dafür nicht durch öffentliche Diskussionen verkleinern. Wenn jetzt jeder in Interviews seine Meinung sagt, werden die Bedingungen für die interne Beratung ja nicht besser.
Sie selbst haben sich für eine kostenneutrale Steuerreform ausgesprochen. Was heißt das?
Ich habe unterstrichen, was die Vorsitzende – aus meiner Sicht zu Recht – gesagt hat: dass der Spielraum für große Steuersenkungen angesichts der Haushaltssituation derzeit nicht gegeben ist. Das auszusprechen gehört zu der Ehrlichkeit, zu der wir uns verpflichtet haben.
Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat harte Einschnitte im Sozialbereich angekündigt. Hat er in Ihnen da einen Mitstreiter?
Was öffentliche Äußerungen angeht, so hat Angela Merkel in mir einen Mitstreiter: Wir äußern uns, wenn wir uns entschieden haben.
Können Sie definieren, was Sozialpolitik bedeutet?
Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft bleiben richtig, nämlich die Effizienz von Markt und Wettbewerb mit Chancengleichheit und der Solidarität mit Schwächeren zu verbinden. Nur so lässt sich eine nachhaltige Politik erreichen, zu der auch die Ökologie gehört, die man nicht ausblenden darf.
Und was ist Sozialabbau?
Ein Begriff, von dem ich glauben würde, dass er eine falsche Richtung beschreibt. Es geht ja nicht darum, Sicherheit abzubauen, sondern die Grundlagen für Sicherheit zu erhalten. Deshalb ist es wichtig, dass man Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance beschreibt.
Plädieren Sie für einen werteorientierten Wahlkampf?
Ja. Eine Beschränkung auf das rein Materielle ist immer unbefriedigend. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wir müssen das richtige Verständnis von Freiheit thematisieren. Freiheit heißt Verantwortung und auch Solidarität, Hinwendung zu den Schwächeren.
Wie wollen Sie sich denn mit dieser weit gefassten Definition von der politischen Konkurrenz abgrenzen?
In einer richtig verstandenen Wertedebatte geht es ja nicht um Abgrenzung. Aber die SPD entscheidet sich im Zweifelsfall immer gegen die Freiheit und für mehr Staat. Wir hingegen glauben, dass man Institutionen fördern muss. Eine Debatte über Ehe und Familie ist letztlich die Frage: wie vermittelt man Werte? Freiheit bedeutet eben auch die Zurückhaltung, nicht allen alles vorschreiben zu wollen.
Klingt gut, ist aber nicht so einfach, sobald es konkret wird. Stichwort Familie: Wenn man einerseits von Arbeitslosen verlangt, dass sie mobil sein sollen, und andererseits die häusliche Pflege fördern will, dann besteht da ein Widerspruch. Wie wollen Sie den auflösen?
Es gibt immer einander widersprechende Prinzipien. Die Lösung kann nur darin bestehen, dass der Arbeitsmarkt wieder besser funktioniert. Deshalb muss auch die Lohnfindung dezentralisiert werden. Das bedeutet keine Kriegserklärung an die Gewerkschaften, sondern soll mehr dezentrales Wachstum schaffen.
Unterstellt, der Bundespräsident lehnt es ab, den Bundestag aufzulösen: Was wären Ihrer Ansicht nach die Folgen?
Wir müssten eine solche Entscheidung respektieren. Aber ich bin der Meinung, dass der Versuch des Bundeskanzlers legitim ist, auf diesem Weg Neuwahlen herbeizuführen. Wenn dieser Versuch scheitert, dann bleibt dem Bundeskanzler nichts anderes übrig, als zurückzutreten.
Hielten Sie eine Verfassungsänderung für richtig, die dem Parlament das Recht zur Selbstauflösung einräumte?
Nein. Das würde den Bundespräsidenten schwächen und wäre eine Veränderung dieser Institution, die ich für falsch hielte. Da kann man anderer Meinung sein. Aber wogegen ich nun wirklich bin, wäre eine Neuregelung als Reaktion auf eine Krise. Wenn man anfängt eine Verfassung fallbezogen zu ändern, dann ist es keine Verfassung mehr.
Ihr derzeitiger Arbeitsbereich ist die Außenpolitik. Sie haben sich gegen die Bemühungen der Bundesregierung um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ausgesprochen. Warum?
Weil ich nicht glaube, dass die Einigkeit der Völkergemeinschaft dadurch befördert wird, dass man weitere Länder privilegiert. Die Reduzierung der Debatte auf diesen Punkt verringert die Chancen auf eine substanzielle Reform der UNO eher, als dass es sie vergrößert. Außerdem wird der Weg der europäischen Einigung dadurch nicht erleichtert – schon allein wegen der Arroganz, für ein drittes westliches Land in Europa einen Platz zu fordern, aber hinzunehmen, dass keiner der neuen osteuropäischen EU- Mitgliedsstaaten im Sicherheitsrat vertreten ist.
Sie haben einen Kurswechsel in der Russlandpolitik angekündigt. Was heißt das konkret?
Wir werden alles daran setzen, die Beziehungen zu Russland und auch zu China weiterzuentwickeln, aber nicht so, dass andere das als neue Sonderachsen empfinden. Außerdem bedeuten gute Beziehungen nicht, dass man Moskau oder Peking Persilscheine ausstellt, indem man beispielsweise die Wahlen in Tschetschenien als absolut demokratisch bezeichnet.
Sie haben gesagt, Europa könne nicht so weitermachen wie bisher. Was meinen Sie damit?
Europa muss sich stärker auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn wir alles, was bisher erreicht worden ist, immer für sakrosankt erklären, wird das dazu führen, dass wir in Überregulierung ersticken. Die Rechte und Pflichten der EU-Mitgliedsländer dauerhaft als verbindlich festzuschreiben, verhindert Reformen und Veränderungen. Wie wir gerade am Beispiel der Agrarpolitik sehen.
Halten Sie es denn für vorstellbar, dass Sie am Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Vollmitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union für richtig ansehen werden?
Aus heutiger Sicht kann ich mir das nicht vorstellen. Wir haben seit langem gesagt, dass eine volle Mitgliedschaft der Türkei die Chancen für eine politische Union in Europa mindert, wenn nicht gar beseitigt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass am Ende auch die Türkei eine privilegierte Partnerschaft für die beste Lösung hält.