„Ich kann mich nicht zurücklehnen“

NACHRUF Der Historiker und Holocaust-Überlebende Arno Lustiger forschte sein Leben lang zur Vernichtung der europäischen Juden. Seine Texte polarisierten, im Alter fand er endlich hohe Anerkennung. Am Dienstag verstarb Lustiger im Alter von 88 Jahren

Mit ihm war gelegentlich wirklich schlecht Kirschen essen. Bemerkte er, gern im Dickicht des Diskurswalds, jüdische Sprecher, die sich, so verstand er es, mit Antisemiten und Antisemitismus gemein machten, zieh er sie des Schlimmsten – der tiefen Aversion gegen das eigene Jüdischsein: Arno Lustiger, Jahrgang 1924, gebürtig im polnischen Bendzin.

Im September 2008 schrieb er über eben jene Spezies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Lehrgang über den Selbsthass“, und in dem führte er aus, dass er nichts von ihnen hielt, den Alfred Grossers und Noam Chomskys, die partout nicht erkennen wollten, dass der Zionismus für die Etablierung Israels ein wichtiger, ja, existenziell notwendiger Schritt war. Und zwar für alle Juden, für die Einwanderer in Palästina wie für die jüdische Diaspora. Israel, so ließe sich sagen, war für ihn, der die nationalsozialistischen Konzentrationslager nur zufällig, durch glückliche Fügungen überlebte, Israel war die Antwort auch der Juden selbst auf die in alle jüdischen Leben eingewobene Angst, nach Belieben und Geschmack verfolgt werden zu können.

Lustiger machte sich mit diesem Text genau die Feinde, die er nicht hatte haben wollen, die er aber in Kauf nahm: Allergisch pflegte er das politische Wischiwaschi gerade der Linken im Hinblick auf Israel und dessen Existenzrecht zu kommentieren. Lustiger, bekennender Zionist, konnte harsch werden, fand er, dass die Tonalität der israelischen Politik ungerecht und proarabisch gestimmt war. Bildern von Flüchtlingslagern von Palästinensern im Libanon begegnete er bewusste blind: Wer über die politischen Bedrohungen gegen Israel nicht sprechen wolle, solle sich von Elendsbildern nicht einschüchtern lassen.

Nach dem Jahr 1945 war Arno Lustiger in Deutschland eine Displaced Person – und nicht willens, nach Israel oder in die USA auszuwandern. Wie andere überlebende Mitglieder seiner Familie blieb er im Land des Holocaust, baute als Textilfabrikant eine Firma für Frauenmoden auf. Seine Leidenschaft aber galt der Rezeption der Schoah selbst: Vor allem die giftige Behauptung, Juden hätten sich nicht gegen ihre Vernichtung durch ihre Feinde gewehrt.

Widerstand der Juden

Er forschte und lehrte – unter anderem als Gastprofessor am Frankfurter Fritz-Bauer-Institut – zu dieser Frage. Seine publizistische Liste zu diesem Thema, eigentlich eines, das von jüdischer Stärke, vom Willen zum Überleben, vom Verrat durch (falsche) Freunde handelt, ist lang und beeindruckend: Am besten ist vielleicht das 1994 erschienene „Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch zum Widerstand der Juden 1933–1945“, am bittersten das „Rotbuch: Stalin und die Juden“, 1998 bei Aufbau erschienen.

Noch kürzlich sagte Arno Lustiger: „Ich kann mich nicht zurücklehnen. Es gibt noch viele Aspekte, die noch zu erforschen sind.“ 2010 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz; ihm wurde vom Land der Professorentitel zuerkannt, die Universität Potsdam verlieh ihm die Ehrendoktorwürde 2007.

Arno Lustiger lebte ein jüdisches Leben ohne Opferkult. Im Alter von 88 Jahren ist er, der Unbeugsame, am Dienstag gestorben. JAN FEDDERSEN