: Das Netz nimmt dich nicht in den Arm
SELBSTHILFE Menschen mit körperlichen oder seelischen Erkrankungen suchen immer häufiger Rat in Internetforen statt in realen Selbsthilfegruppen. Aber seriöse Angebote sind nicht immer leicht zu finden
Es ist nicht einfach, im Internet seriöse Selbsthilfeforen zu finden. Laut Nationaler Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (Nakos) sollte man auf folgende Kriterien achten:
■ Das Forum braucht ein Impressum und damit einen Verantwortlichen.
■ Hinter der Seite steckt kein Unternehmen, etwa aus der Pharmabranche.
■ Betroffene diskutieren wirklich miteinander.
■ Ein Moderator achtet darauf, dass die Forumsregeln – die sogenannte Nettiquette – eingehalten werden.
■ Die Nutzer sollten ein Pseudonym wählen und darauf achten, dass auch in der E-Mail-Adresse ihr Klarname nicht auftaucht.
VON JOACHIM GÖRES
„Im Internet kann ich mich auch nachts austauschen, wenn ich nicht schlafen kann. Außerdem trauen sich viele Depressive nicht, eine bestehende Gruppe persönlich aufzusuchen.“ Annette Weddy, Vorstandsmitglied der Deutschen Depressionsliga, bringt auf den Punkt, warum immer mehr Menschen mit körperlichen oder seelischen Erkrankungen den Rat von Betroffenen im Internet suchen, statt in eine der bundesweit rund 70.000 Selbsthilfegruppen zu gehen. Internetforen wie depressiv-diskussion.de haben mehr als 10.000 Nutzer – die Wahrscheinlichkeit, dort auf Menschen mit einer ähnlichen Geschichte zu stoßen, ist deutlich höher als in einer festen Gruppe mit einem Dutzend Teilnehmer.
Experten schätzen, dass sich rund eine Million Betroffene in Deutschland regelmäßig in Selbsthilfegruppen treffen, während sich zwei bis drei Millionen Menschen im Internet austauschen – Tendenz steigend. Als Hauptgründe geben die Online-Nutzer an, dass ihnen die Zeit für persönliche Treffen fehle und ihnen die Atmosphäre einer festen Gruppe unangenehm sei.
„Das Internet ist für uns ein großer Segen, denn unsere Erkrankung ist so selten, dass wir kaum Ortsgruppen gründen könnten“, sagt Enzia Selka von der Selbsthilfegruppe Vulvakarzinom aus Wilhelmshaven. In den Foren hörten Neulinge meist erst nur zu und müssten Vertrauen fassen, bevor sie mitdiskutierten. Oft bleibe es beim Kontakt im Internet. „Zu unserem Jahrestreffen kommen nur 50 der insgesamt 700 bei uns registrierten Frauen“, sagt Selka.
Für die meist ehrenamtlich arbeitenden Selbsthilfevereinigungen sind die Foren mit großem Aufwand verbunden. „Wir zahlen für einen Server monatlich 120 Euro, damit keine Unbefugten mitlesen können“, sagt Selka. „Und wir moderieren den Austausch der Frauen im Internet. Dafür geht viel Zeit drauf.“
Jan Asmus organisiert vom schleswig-holsteinischen Uetersen aus mit einer Handvoll Mitstreiter das Forum für an Multipler Sklerose und Neuromyelitis optica Erkrankte und ihre Angehörigen (www.nmoforum.de), mit mehr als 1.500 Mitgliedern nach seinen Angaben das größte Forum mit Registrierung für Betroffene mit diesen Erkrankungen. „Unsere Teilnehmer kommen aus ganz Europa. In der Schweiz treffen sich viele User regelmäßig, in Deutschland sind solche persönlichen Kontakte eher die Ausnahme“, sagt Asmus.
Als Administrator sorgt er dafür, dass niemand Werbung für dubiose Heilmittel macht oder sich im Ton vergreift. „Die Anonymität führt zu mehr Offenheit, aber manchmal auch zu einem raueren Umgang als in festen Gruppen“, sagt Asmus. Die meisten der Nutzer seien zwischen 20 und 40, viele wohnten auf dem Lande, wo es keine Selbsthilfegruppen in der Nähe gebe. Doch selbst für Betroffene in den Städten sei eine Gruppe oft unerreichbar, da sie wegen ihrer Erkrankung oft nicht mehr selbst fahren könnten.
Asmus sieht keine Konkurrenz zwischen Internetforen und Selbsthilfegruppen – letztere seien aber nichts für ihn. „Da muss man sich Auge in Auge mehr öffnen und spricht über persönliche Befindlichkeiten, das ist nicht mein Ding“, sagt Asmus. Sicher könne man sich in einer Selbsthilfegruppe im Gegensatz zum Internet auch in den Arm nehmen, aber Rat und Trost gebe es auch im Forum. Im Gegensatz zu klassischen Selbsthilfegruppen biete sein Forum auch ärztlichen Rat, der häufig in Anspruch genommen werde. „Es gibt Interessierte, die sich bei uns informieren und dann nicht wieder auftauchen“, sagt Asmus. „Und dann gibt es eine große Anzahl stiller Leser. Etwa die Hälfte der Mitglieder ist regelmäßig anwesend.“
Letztlich ist es auch eine Frage des Alters, welche Art des Kontaktes gewählt wird. „Bei uns sind die meisten über 65. Die treffen sich lieber persönlich. Für viele ohne Computerkenntnisse wäre das Internet nur eine zusätzliche Hürde“, sagt Hans-Jürgen Meyer von der Parkinson-Selbsthilfegruppe Soltau, eine von mehr als 7.000 Selbsthilfegruppen in Niedersachsen (www.selbsthilfe-buero.de). „Betroffene zwischen 25 und 35 erreichen wir mit unseren Informationen vor allem über Facebook und Twitter. Die würden sonst kaum zu uns finden“, sagt dagegen Ines Teschner vom Bundesverband der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft in Hannover. Sie rät gerade jungen Leuten zu größerer Vorsicht im Internet. „Da offenbart jemand unter seinem richtigen Namen seine MS-Erkrankung und ist geschockt, dass ein Personalchef ihn bei einem Bewerbungsgespräch darauf anspricht.“