: Mit Strom gegen die Sucht
ENTZUG Eine Therapie mit elektronischen Reizen verspricht Drogen- und Alkoholentzug ohne Schmerzen. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten jedoch nicht
VON TIMO ROBBEN
Hongkong 1970: Ein Morphium-Süchtiger nimmt an einer Versuchsreihe zur Narkose durch Elektro-Akupunktur teil. Die Ärzte vergessen ihn und er schläft ein – mit den Elektroden hinter den Ohren. Als er am Morgen aufwacht, scheint der Suchtdruck verschwunden zu sein, Entzugserscheinungen bleiben aus und die Idee einer neuen Suchttherapie ist geboren.
In den folgenden 40 Jahren wurde die Elektrotherapie oder Elektrostimulation weiterentwickelt und wird bei unterschiedlichen Erkrankungen eingesetzt. Elektrische Reize können die Durchblutung verbessern, Muskelverspannungen lösen und werden auch in der Schmerztherapie eingesetzt.
Im Therapiezentrum Nescure im bayerischen Germering wird die Elektrostimulation im Suchtentzug eingesetzt. Sechs Therapeuten betreuen hier im Monat rund 20 Patienten bei der Entgiftung. „Der Botenstoff-Haushalt gerät durch die Drogen durcheinander“, sagt Kai Goos, einer der Therapeuten, denn Drogen können im Hirn Nervenimpulse so verstärken oder blockieren, dass Schmerz vermindert oder vermehrt Glückshormone ausgeschüttet werden. Dieser Effekt werde bei Elektrostimulation durch die elektrischen Impulse ersetzt.
Diese Methode zur Entgiftung zählt zur sogenannten alternativen Medizin. Die 2.480 Euro, die die Entgiftung kostet, werden nicht von den Krankenkassen übernommen. „Die Wege sind hier ziemlich eingefahren“, sagt Goos. Man habe nicht die Kapazitäten, um eine Studie mit 2.000 Patienten vorzulegen, die die Therapie gegenüber der Krankenkasse rechtfertigen würde. „Unsere Erfolgsquote liegt aber geschätzt bei 40 bis 70 Prozent“, sagt Goos. Bei herkömmlichen Verfahren seien es 30 Prozent.
„Das Schöne an der Methode ist, das sie völlig schmerzfrei funktioniert“, sagt Goos. Die Botenstoffe, die durch die elektrischen Impulse im Gehirn ausgestoßen werden, überlagerten den Schmerz und die Depression, die Entzüge normalerweise mit sich brächten. Nach der fünftägigen Entgiftung werden die Patienten an Sucht-Therapeuten in ganz Deutschland vermittelt. Eine davon ist die Hannoveraner Psychotherapeutin Frauke Hartenstein. „Ein halbes bis fünf Jahre sind die Menschen bei mir in Behandlung“, sagt Hartenstein. Sie gibt den Patienten Strategien und Verhaltensweisen mit auf den Weg, die ihnen helfen sollen, in Stresssituationen nicht zur Droge zu greifen. „Meistens geht es darum, den Menschen ihr Selbstvertrauen wiederzugeben“, sagt Hartenstein. Die 65 Euro, die sie pro Stunde von ihren Patienten nimmt, werden ebenfalls nicht von den Krankenkassen übernommen.
In Deutschland gibt es laut Caritas-Verband 17 Millionen Raucher, 1,3 Millionen Alkoholiker und drei Millionen Drogenkonsumenten. Aber in der Schulmedizin kommt die Behandlung von Suchterkrankungen zu kurz. Eine neue Studie der Universität Göttingen stellt diesen Zahlen die Zeit gegenüber, die angehende Ärzte und Ärztinnen in ihrem Studium der Suchttherapie widmen: insgesamt seien nur fünf Stunden im fünfjährigen Medizinstudium der Alkohol- und Tabakabhängigkeit gewidmet. „Eine mögliche Ursache ist, dass die pharma-medizinischen Methoden leichter zu unterrichten sind“, sagt der Kardiologe Tobias Raupach, der die Studie geleitet hat. „Geben Sie dem Patienten eine Tablette, wenn er folgende Symptome aufweist.“ Suchttherapie sei aber deutlich komplexer und müsse mehr Platz im Studium einnehmen. Raupach arbeitet in London und Deutschland u. a. an Verbesserungen des Lehrplans.