: Es muss nicht immer Ballett sein
BEWEGUNG Berlin ist die heimliche Hauptstadt der Eurythmie – hier wurde die Bewegungskunst vor 100 Jahren erfunden. 2012 locken zahlreiche Veranstaltungen
VON ANGELIKA OLDENBURG
Zum hundertsten Geburtstag der Eurythmie finden in diesem Jahr zahlreiche Veranstaltungen statt – ein großer Teil davon in Berlin. Den Zuschauern wird in der Hauptstadt ein breites Spektrum geboten: Aufführungen der sieben in Berlin ansässigen Bühnengruppen, Seminare, Vorträge und eine Stadtführung („Wo gab es die ersten Eurythmie-Aufführungen in Berlin?“).
Berlin durfte tatsächlich immer schon als das heimliche Zentrum der Eurythmie gelten. Denn hier führte Ende 1911 Rudolf Steiner ein Gespräch, das den Gründungsimpuls für die Eurythmie gab. Mit der Mutter eines jungen Mädchens, Lory Maier-Smits, redete er über die Zukunft ihrer Tochter und über deren Berufswünsche. Diese lagen im Bereich der Tanzkunst. Rudolf Steiner erwiderte, dass er es für dringend notwendig halte, eine neue Bewegungskunst zu erfinden. Lory Maier-Smits wurde seine erste Schülerin, einige Jahre später trat das erste Eurythmie-Bühnenensemble in großen europäischen Theatern auf.
Tänzerische Experimente lagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Luft. Isadora Duncan, Rudolf von Laban, Mary Wigman – überall gab es Versuche, zu spontaneren Ausdrucksformen zu kommen, als das im klassischen Ballett möglich war. Steiner ging einen anderen Weg – er verstand Eurythmie als „sichtbare Sprache“ oder auch „Sprache durch Bewegung“, die in einem „schönen Verhältnis stehen kann zur geistigen Welt“. Eurythmie ist nicht die emotionale Reaktion auf Töne, sondern sie versucht, tiefer in die Töne und Laute hineinzuhören und auszudrücken, was in ihnen liegt. Zu den Choreografien und Gesten kommt der Eindruck der Farben in Gewändern und Bühnenbeleuchtung.
Aber es gibt nicht nur die künstlerische Eurythmie, die man auf der Bühne sehen kann. Eine große Rolle spielt die Eurythmie im Lehrplan fast aller Waldorfschulen. Meist wird sie vom Kindergarten bis in die zwölften Klassen unterrichtet. Sie ermöglicht den Schülern, sich körperlich auszudrücken, auf eine andere Weise, als das im Sportunterricht möglich ist. Die Frage „Kannst du deinen Namen tanzen?“ hat schon viele Waldorfschüler genervt. Vor allem in der Pubertät liegen sie im Clinch mit diesem Unterrichtsfach, das es an keiner staatlichen Schule gibt. Dann ist vom Waldorflehrer Offenheit gefordert. „Die früher oftmals geäußerte Meinung: ‚Wenn die Schüler über die Eurythmie sprechen wollen, ist das ein Zeichen für schlechten Eurythmieunterricht‘, halte ich für falsch“, so etwa Matthias Jeuken von der Freien Hochschule Stuttgart. „Wenn mein Unterricht die Schüler zu eigenständigem, selbstbewusstem Mitmachen und Gestalten anregt, ist es doch gerade ein Qualitätsbeweis, wenn sie das Erlebte auch reflektieren und verstehen wollen, wie und warum die Eurythmie wirkt.“ Vielen Schülern macht Eurythmie aber tatsächlich Spaß. „Raumgefühl, Schwerelosigkeit, Kreativität, Achtsamkeit“, erwiderten etwa Schüler einer Waldorfschule, als sie gefragt wurden, was die Eurythmie ihnen bringe.
Auch in akademischen Kreisen macht Eurythmie inzwischen Schule: Die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn richtete 2008 die weltweit erste Professur für Eurythmie ein. „Die wissenschaftliche Seite der Eurythmietherapie soll im Zusammenspiel von Kunst und Medizin zukünftig eine größere Rolle spielen“, umreißt Lehrstuhlinhaberin Annette Weißkircher die Ziele ihrer Tätigkeit.
Auch zu therapeutischen Zwecken wird Eurythmie nämlich benutzt – als „Heilung durch Bewegung“. Der Mensch lernt, mit Gebärden und Bewegungen gesundende Kräfte in seinem Körper zu erleben und zu erzeugen. Was in anderen Kulturen als Chi bekannt ist, als Lebensenergie, kennt die Eurythmie ebenfalls. Sie arbeitet mit diesen vitalen Kräften, regt an, beruhigt und formt. Eine medizinische Studie aus dem Jahre 2008 bezeichnet die Heileurythmie als „potentially relevant“ und regt weitere Forschungen an. Einige Krankenkassen übernehmen die Kosten für Heileurythmie.
Viele anthroposophisch ausgerichtete Firmen setzen zudem auf die sogenannte Betriebseurythmie. Sie dient zur Auflockerung monotoner Arbeitsabläufe und ermöglicht, da sie in der Gruppe ausgeführt wird, Begegnungen zwischen Mitarbeitern, manchmal eine willkommene Chance, Menschen aus anderen Abteilungen zu treffen.
Weitere Informationen unter www.100-jahre-eurythmie.de