berliner szenen: Reizdarm im Gespräch
Hohe Auslastung erwartet, sagt die Bahn-App über meinen Zug zurück nach Berlin. Ich finde einen Platz neben einer Familie, die sich hemmungslos beim Kartenspielen streitet. Das Mädchen kann nicht ertragen, dass sie Runde um Runde ins Hintertreffen gerät, der ältere Bruder triumphiert, die Mutter pocht auf Regeln. Eine Weile halte ich durch, dann suche ich einen anderen Platz.
Die Stille währt nur kurz. Zwei Reihen hinter mir hat sich ein etwa 30-jähriger Mann mit seinem Vater eingerichtet und beginnt lautstark zu dozieren: Auswirkungen gesunder Ernährung auf die Darmgesundheit. In allen Einzelheiten. Der Vater macht nur leise hm, hm, der Sohn dreht auf. Nach einer Viertelstunde wende ich mich um und erkenne, dass meine Bitte um Mäßigung vergeblich sein wird. Der Sohn ist völlig zugekifft. Seinen Eifer können auch meine Kopfhörer nicht übertönen.
Irgendwann beugt sich über den Gang ein älterer Mann zu mir herüber. „Das ist doch nicht auszuhalten, man kann sich ja auf nichts konzentrieren bei diesem Unsinn.“ Ausgiebig teilen wir unser Genervtsein, der Darm-Vortrag geht unterdessen weiter. Kurz vor Spandau reicht mir der Mann seine Visitenkarte. Er würde sich freuen, nochmal in entspannterer Umgebung mit mir zu plaudern. Spandau habe herrliche Uferwege. Im Prinzip gefällt mir so eine direkte Kontaktaufnahme, nur nicht von einem Mann, der sich schon morgens einen Rotwein aus dem Bordbistro geholt hat.
Nach ein paar Tagen finde ich seine Visitenkarte in der Manteltasche wieder und google neugierig: ein pensionierter Lehrer einer Polizeihochschule. In einem älteren Artikel verlangt er ohrenfreie Haarschnitte bei männlichen Anwärtern. Ich mochte noch nie kurzgeschorene Köpfe, heute noch viel weniger als damals.
Claudia Ingenhoven
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