berliner szenen: Schuhe oder nicht Schuhe
Kommt, meine Winterstiefel, jüngst am Kotti aus einer Verschenkekiste gegriffen und für teuer Geld besohlen lassen! Ich eile gestiefelt und gespornt die vier Treppen runter, raus aus dem Haus, vorfreudig. Heute geht’s zu einer Bekannten aufs Land. Sie wohnt in einem zerfallenden Haus zwischen Pferdekoppeln, auf denen sommers Wermut und Butterblume wachsen.
An der Laterne unten – kein Fahrrad. Schon wieder geklaut? Raschen Schritts gehe ich die 800 Meter zur U-Bahn, steige um, um, nochmals um und dann, simsalabim!, trete ich auf einen Bahnsteig inmitten grüner Stille. Schon empfängt mich das Lachen der Bekannten.
Wie schön, sag ich und atme mich frei in der klaren Luft. Recht weit ist's zu ihrem Häuschen, das einsam zwischen zwei Dörfern steht. Nach dem Essen, so unser Plan, spazieren wir um den See, besuchen die Pferde – und unbedingt noch die neugeborenen Lämmchen, wie sie sagt. Ach, wie gemütlich sitzt es sich bei Spitzkohlauflauf und Wein …
Lass uns mal losgehen, meint sie dann aber, es wird früh dunkel. Vor der Tür will ich nach meinen Schuhen greifen. Doch dort stehen sie nicht. Wird auf dem Land geklaut? Das wäre der zweite Verlust heute. Und heißt weder Spaziergang noch abendliche Rückfahrt nach Berlin. So verbringe ich dank dieser Schuhe oder eben Nichtschuhe eine ungeplante Nacht im Herzen der Stille, nah am Herzen der Gastgeberin. Im Frühnebel trete ich mit den noch fix geborgten Stiefeln des Schäfers die Rückreise an.
Als ich nach zwei Stunden Fahrt am Kottbusser Tor das Straßenniveau erreiche, noch trunken vom Glück dieser Nacht, sehe ich aus den Augenwinkeln mein Fahrrad. Nicht an der Laterne vor meiner Tür, sondern hier, weil ich vergessen hatte, dass ich's hier vergessen hatte.
Felix Primus
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