: Das Drama der Autonomie
RETRO Agnès Varda repräsentierte feministisches Selbstvertrauen unter den wilden Männern der Nouvelle Vague. Eine Retrospektive im Arsenal würdigt ihren poetischen Dokumentarismus und ihre imaginative Kraft
VON CLAUDIA LENSSEN
„Wenn man in mich hineinsehen könnte, sähe man Strände“, sagt Agnès Varda, die Grande Dame der französischen Nouvelle Vague über sich. Das Offene, Weite faszinierte die energische kleine Frau schon immer. In „Die Strände der Agnès“, einem poetischen Reisefilm in die Welt ihrer Traumorte und Leitmotive, der im September in den deutschen Kinos startet, verführt sie voll Selbstvertrauen zum Schauen.
Ähnlich wie ihre „Neue Welle“-Kollegen Alain Resnais, Jacques Rivette, Eric Rohmer und Claude Chabrol scheint das Filmemachen die alte Dame jung zu erhalten. Agnès Varda war einst die einzige Frau im losen Kreis der französischen Autorenfilmer, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren das Kino neu erfanden. Im Unterschied zu den Pariser Dandys kam sie aber nicht vom Schreiben zum Kino, sondern von der Fotografie. Und von Beginn an betonte sie entschieden ihre Weiblichkeit, ihr kreatives Anderssein in der coolen Szene der jungen Hengste des Autorenkinos. Was Wunder, dass die Filme der Agnès Varda immer auch Schauplatz eines kraftvollen weiblichen Narzissmus sind.
Armut und Rhythmus
Schon im ersten Spielfilm, „La pointe courte“, war 1954 alles da, was die Welt der Varda ausmacht: eine Protagonistin, die auf Augenhöhe mit dem Mann um ihre Liebe kämpft und das Drama um ihre Autonomie auch als Einsamkeit und Verlorenheit erlebt. Schauplatz ist ein Fischerdorf an der Côte d’Azur, dessen Alltag, Armut und Lebensrhythmus Agnès Varda in ihrer Jugend etwas bedeutete. Die Kontraste von Stadt und Land, Pariser Boheme und mediterraner Einfachheit, artifizieller Inszenierung und elegantem Spiel mit dem Vorgefundenen verdichtet Varda zu einer eigenen Filmsprache.
Geboren wurde Varda 1928 in Brüssel als Tochter eines griechischen Vaters und einer französischen Mutter. Die Kriegszeit verbrachte sie im südfranzösischen Küstenort Sète, wohin der Vater die Familie mit einem Segelboot quasi evakuiert hatte. Reisen aus der Stadt ans Meer und das Schweben zwischen provisorischer Existenz und sicherer Familienbindung ziehen sich durch viele ihrer Filme. So erzählte sie in den Achtzigerjahren beispielsweise in „Kung Fu Master“ von der Liebe zwischen einer reifen Frau und einem Teenager. Als Fluchtort für das unmögliche Paar (Jane Birkin und ihr Sohn Mathieu Demy) wählte sie die französische Atlantikküste. In einem ihrer berühmtesten Filme, „Vogelfrei“, rekapituliert sie in Episoden die letzten Lebenstage der einsamen Streunerin Mona (Sandrine Bonnaire) an der Côte d’Azur und stellt in ihrem melancholischen Off-Kommentar die Frage nach dem Warum und Woher.
Reisen für Fotos
Nach dem Krieg studierte Varda zunächst Kunstgeschichte in Paris, um Restauratorin zu werden. Und sie begann zu fotografieren. Vom Handwerk der Theaterfotografie aus entwickelte sie sich zur Fotoreporterin für das damals aufblühende Genre der Illustrierten. Sie reiste nach China, Kuba und ins geteilte Deutschland. Sie beschaffte sich schließlich eine Filmkamera und drehte mit Freunden vom Theater, den Schauspielern Philippe Noiret und Silvia Montfort, ihr Debüt „La pointe courte“.
Bis heute sind Fantasie und Imagination, Beobachtung und Dokumentation die Stützen ihres intuitiven Stils. Dokumentarfilme gibt es viele in Agnès Vardas Lebenswerk, einer der schönsten darunter ist „Daguerrotypes“, der den Bewohnern der Pariser Rue Daguerres, in der sie seit über vierzig Jahren wohnt, gewidmet ist.
Wunderbare Frauenporträts verdankt das Kino Agnès Varda, etwa die leise Momentaufnahme der vielleicht krebskranken Sängerin Cléo in „Cléo von fünf bis sieben“, das Traumrollenspiel der liebenswürdig exaltierten Jane Birkin in „Jane par Jane“. „Le Bonheur“ war 1965 ein heißer Diskussionsstoff, weil Agnès Varda eine Dreiecksgeschichte raffiniert mit den Bildversprechen der Werbung kombinierte und sich jeglicher Moral enthielt.
Feministin avant la lettre
Als Feministin avant la lettre schloss sich die Regisseurin der Kampagne zur Neuregelung der Abtreibung in den 70er-Jahren an und schuf mit „Die eine singt, die andere nicht“ ein agitatorisches Musical, das einen Diskurs über das Ja oder Nein der Frauen zur Kinderfrage eröffnete.
Mittelpunkt ihres Lebens war die Ehe mit dem Regisseur Jacques Demy, dem Ziehvater ihrer Tochter Rosalie und Vater ihres Sohns Mathieu. Vardas Poetik, in dem die visuellen und musikalischen Ebenen korrespondieren, lässt sich so auch als eine Liebeserklärung an die Filmmusicals ihres Mannes lesen. Als dieser in den Sechzigerjahren nach Hollywood ging, begleitete Varda ihn zunächst, kehrte jedoch nach der Trennung und einigen hippiesken und sehr wehmütigen Filmen mit ihren Kindern nach Paris zurück. Den Tod ihres an Aids erkrankten Mannes versuchte sie mit forcierten filmischen Hommagen zu bewältigen. Aus diesem Trauma fand sie heraus. Und so collagiert sie seit einigen Jahren humorvoll und elegant ihre selbst produzierten kleinen dokumentarischen Essays. Die alterslose alte Dame ist auf faszinierende Weise präsent.
■ Die Retrospektive ist bis 30. 9. im Arsenal zu sehen. Eine Woche vor dem Kinostart wird in Agnès Vardas Anwesenheit heute Abend um 20 Uhr „Les Plages d’Agnès“ gezeigt