: 100-prozentig freundlich
AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB
Sie heißen Petersen, Oderwill und Leistner. An ihrem freien Tag machen sich die drei Betriebsrätinnen in Berlin auf, um von einer Lidl-Filiale zur nächsten zu ziehen. Der Discounter ist in Verruf. „Billig auf Kosten der Belegschaft“, sagt Ver.di. Die drei wollen den Verkäuferinnen, die dort arbeiten, einen Brief überreichen. Drin steht, dass es sich lohnt, für seine Rechte zu kämpfen. Dazu gibt es einen Glückskäfer aus Schokolade. Anzusehen ist ihnen ihre Mission nicht.
Der Supermarkt am Oranienplatz in Kreuzberg steht auf Platz eins der Tour. Zuerst wird der Filialleiter gesucht. Um seinen Hals hängt ein Schild mit dem Namen. Krepper heißt er. „100 % freundlich“, steht auf dem Band. Selbstverständlich könne man den Verkäuferinnen den Brief überreichen, meint er. Sicher habe er das Lidl-Schwarzbuch von Ver.di gelesen. Natürlich stimme das, was drinsteht, für seine Filiale nicht. Klar seien Testkäufe wichtig. Ganz gewiss könne man lernen, 40 Waren pro Minute über den Scanner zu ziehen, wenn auch nicht in ein oder zwei Wochen.
„Als hätte er uns erwartet“, sagt Martina Petersen, als sie wieder vor dem Supermarkt steht. „Anders als im letzten Jahr. Da wurden wir rüde empfangen.“ Groß ist die graublonde Betriebsrätin von Karstadt, ihr Gang federnd und leicht. Fast majestätisch wirkt sie dadurch. Verstärkt wird das Erhabene dadurch, dass sie Barbara Oderwill und Rosi Leistner um Kopfeslänge überragt. Deshalb gehe sie lieber einen Schritt hinter ihnen. Zu oft habe sie erlebt, dass Kleinere zu ihr aufschauten, wo sie doch gerne die Bescheidene sei.
Ähnliche Widersprüche, die etwas mit der Überzeugung zu tun haben, dass alle Menschen gleich sind, treiben die beiden anderen Frauen dazu, für die Gewerkschaft das Fußvolk zu sein. Nur dass sie es als ehemalige Ostlerinnen anders ausdrücken. „Man hat immer eine Gegenseite, die man überzeugen muss“, sagt Oderwill. Und: „Alle Menschen sind Brüder!“ Ihre Kollegin, Rosi Leistner, nickt und erzählt, dass sie schon zu DDR-Zeiten in der Gewerkschaft war, dass sie das mitgebracht hat aus dem alten System. „Hör mal, das war doch keine Gewerkschaft, da hat man nur genickt.“ Oderwill besticht durch resolute Direktheit.
Dass gerade Oderwill und Leistner unterwegs sind, um sich bei diesem Discounter für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, gilt in den Gewerkschaftsetagen als besonders mutig, sind die beiden doch Betriebsrätinnen bei einem Kaufland-Markt am Rand von Berlin. Der gehört zum Schwarz-Konzern wie Lidl auch. „Natürlich kriegen wir Ärger, wenn es rauskommt, deshalb nennen wir unsere richtigen Namen auch nicht.“ Oderwill, Leistner – beide haben als Alias die Namen ihrer Großmütter gewählt. „So gläsern sind wir noch nicht, dass wir bei der Einstellung Stammbäume vorlegen müssen.“
In der nächsten Lidl-Filiale am Kottbusser Tor ist Herr Wehrmann der Chef. Auch um seinen Hals hängt das Band: „100% freundlich“. Er lacht verlegen, als Leistner ihn anspricht. Sicher dürfe den Verkäuferinnen der Gewerkschaftsbrief übergeben werden. Klar habe er vom Schwarzbuch gehört. Vieles sei übertrieben. Seine Exfrau sei bei Ver.di. Überzeugen von dem Kram konnte sie ihn nicht. Wehrmann ist dabei, eine zwei Meter hohe Palette mit Tiefkühlkost zu verräumen. Wie lange er denn dafür brauchen dürfe? „So ’ne Viertelstunde“, meint er. Ob er das schaffe? „Sicher.“ Wie schon vorher bedankt sich auch hier die Verkäuferin artig für den Glückskäfer.
„Die direkte Ansprache ist aus der Mode gekommen“, meint Petersen. „Wenn man es doch tut, ist es wie ein Schock“. „Dabei unterscheidet uns das vom Tier, dass wir sprechen können“, hakt Oderwill nach und fordert, mit entschlossenem Schritt zur nächsten Filiale zu ziehen.
Die wird von Hoffmann geleitet. Das 100-prozentig Freundliche ist bei ihm mit einer Leidensmiene gepaart: „Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ In seiner Filiale sei alles bestens. Was Ver.di sagt: überzogen, übertrieben, verfälscht. Und im nächsten Geschäft verschwindet der Filialleiter, als sich die Truppe zu erkennen gibt. Sein Namensschild versteckt er im Hemd. Das Freundlichkeits-Image, das sich der Discounter seit der Veröffentlichung des Schwarzbuchs geben will, ist noch nicht überall angekommen.
Lidl hat für seine PR vor kurzem die Agentur Engel & Zimmermann aus Gauting bei München beauftragt. Sie ist auf Skandalmanagement spezialisiert. Als Bahlsen wegen Salmonellen in der Kritik war, sprang sie ein. Als die Weinkellerei des langjährigen Berliner Senators Elmar Pieroth (CDU) in einen Glykolskandal verwickelt war, wurde sie aktiv. Als Coppenrath & Wiese sich Vorwürfen gegenübersahen, weil ein Kind nach dem Verzehr einer Torte gestorben sei, wurde sie tätig.
Die Strategie der Krisenmanager: Understatement. Es wird nicht mit einer Riesen-PR-Aktion gegen die Anschuldigungen angerannt, sondern es wird Lobbyarbeit für eine andere Interpretation des Geschehens vor allem unter Journalisten betrieben. Das Lidl-Schwarzbuch von Ver.di wird deshalb in den Pressemitteilungen der Agentur als „Diffamierungskampagne“ und „anonyme Denunzierung“ bezeichnet. Die Vorwürfe gegen das Unternehmen stimmten nicht, Taschenkontrollen bei den Beschäftigten seien durch die Rechtsprechung abgedeckt, die Belegschaft sei in hohem Maße zufrieden. „Ver.di hat Mitgliederschwund, da machen die solche Kampagnen, um Mitglieder zu werben“, meint Marion Brucker, die zuständige PR-Referentin. Soll heißen, bei der Gewerkschaft und bei Lidl geht es um dasselbe: um Gewinn.
Dagegen steht das Engagement der drei Frauen. Ihnen tun die Füße weh vom Berliner Asphalt. Das macht sie schweigsam. Erst im Café tauen sie auf, erzählen, dass sie gegen Windmühlen kämpfen. In Petersens Karstadt werden Stellen abgebaut. „Man steht mit dem Rücken zur Wand.“ Und im Kaufland, bei Oderwill und Leistner, gibt es über 200 Verkäuferinnen. Die meisten mit Zeitverträgen. Ist billiger fürs Unternehmen. Von den wenigen Stunden aber könne niemand existieren. „Die Angst bei den Leuten ist so groß, dass sie bereit sind, alles mitzumachen“, meint Leistner. Oderwill geht einen Schritt weiter: „Die Angst der Leute vor dem, was kommen könnte, ist größer, als ihre wirkliche Not.“