kritisch gesehen: uraufführung von „die sommer“ am theater osnabrück
: Identitätssuche mit Genozidhintergrund

Eine Herausforderung. Die resolut präsente, blitzschnelle Rollenwandlerin Katharina Kessler und die gerade in der humorvollen Zuspitzung von Charakterdetails sehr präzise Laila Richter sowie, als Gast, Cansu Şîya Yıldız, spielen am Theater Osnabrück alle Figuren, Erzählstimmen, Beschreibungen, Reflexionen aus Ronya Othmanns autofiktionalem Roman „Die Sommer“.

Der erzählt eine von Rassismus und Diskriminierung begleitete Geschichte des Erwachsenwerdens. Im Mittelpunkt steht Leyla, Tochter einer deutschen Mutter und eines jesidischen Kurden. Jesiden? Was wissen wir über sie? Eben! Da bestehen Informations- und menschliche Annäherungsdefizite. Und so ist das Buch auch ein Versuch, die Schönheit einer verloren gehenden Welt zu bewahren. Im ersten Teil gewährt Leyla Einblicke in archaische Traditionen und den Alltag ihrer Verwandten in Syrien, wo sie mit den Eltern die Sommerurlaube verbringt. In der staubigen Hitze der ländlichen Armut schämt sich Leyla allerdings schon früh, wie eine „Prinzessin auf Staatsbesuch“ zu wirken. Die Identitätssuche der Protagonistin spielt sich ab zwischen diesem Herkunftsort des Vaters und der Diaspora Almanya, zwischen den endogam-heterosexuellen Verheiratungsplänen und lesbischem Coming-out. Schließlich macht der Bürgerkrieg die Besuche unmöglich. Die zunehmende Bedrohung, die der Roman atmosphärisch vermittelt, lässt die Osnabrücker Spielfassung vermissen, aber die Ereignisse des Jahres 2014 bleiben natürlich zentral für Leylas kämpferisches Selbstverständnis.

Damals zwangen Isis-Milizen jesidische Frauen und Mädchen in die Sklaverei, machten entführte Jungen zu Kindersoldaten und ermordeten Tausende Männer. Viele flohen, auch Leylas Familie. Der Bundestag hat diese Verbrechen am 19. Januar 2023, kurz vor der Osnabrücker Uraufführung, als Völkermord anerkannt – dem 74. Genozid, dem die Jesiden nach eigener Zählung ausgesetzt waren.

Inspirierendes Theater

Um all das in 90 Minuten zum Bühnenereignis werden zu lassen, potenziert Regisseurin Emel Aydoğdu die bruchstückhafte Struktur der Vorlage in einem konzeptionell schlüssigen, performativen Setting. Auf einer Kletterschräge, betonierten Sitzstufen sowie im offenen Spielraum des Emma-Theaters werfen sich die Spielerinnen lässig die Rollen zu, mal werden Dialoge empathisch verkörpert, mal Figuren nur skizziert, dann Beschreibungen in Tableaux vivants, pantomimische Illustrationen oder Tanz übersetzt. Schnell aufglühende und wieder verglimmende szenische Miniaturen – die Interaktion von Wort und Bild kommt mit zunehmender Aufführungsdauer in einen elegant-vitalen Flow.

Die Sommer, emma-theater, Osnabrück. Aufführungen am 9., 15., 16., 22. und 28. 2., 19.30 Uhr

Mit Nachdruck erinnert die Aufführung an den gemeinsam von Kurden, Arabern, Armeniern, Aramäern, Drusen, von Christen, Jesiden, Sunniten, Alawiten, Schiiten getragenen Widerstand gegen Assad, auf den auch ein Aufbruch der nun drei Bühnen-Leylas erfolgt. Mit traurig ernstem Gesicht schultern sie Rucksäcke. Geht es zurück nach Syrien? In den Krieg? Oder ist das ein Aufbruch als Befreiung vom jesidischen Teil der Biografie? So offen das Finale ist, so anregend kommt die ernsthafte, ehrfurchtsfreie, nie belehrende Begegnung mit der Geschichte der Jesiden im Theater daher. Inspirierend.

Jens Fischer