DENIZ YÜCEL BESSERÜBER DEN EHRENMORD AN ARZU ÖZMEN UND DEN WÜNSCHENSWERTEN UNTERGANG BESTIMMTER KULTUREN : Patriarchat und Penicillin
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Arzu Özmen wurde von ihren Geschwistern ermordet. Im November 2011 verschleppten sie sie aus der Detmolder Wohnung ihres Freundes Alexander. Im Januar wurde die Leiche der 18-Jährigen gefunden, hingerichtet mit zwei aufgesetzten Kopfschüssen. Für das Landgericht ein klarer Ehrenmord. Vorige Woche erging das Urteil: lebenslänglich für den Todesschützen Osman, zehn Jahre Haft für den Bruder Kirer und die Schwester Sirin, fünfeinhalb Jahre für die beiden anderen Brüder.
In der taz war über Arzus Schicksal bislang nur Folgendes zu lesen: Polizei bittet die Türkei um Amtshilfe (20 Zeilen); vermisstes Mädchen tot aufgefunden (31 Zeilen), Prozessbeginn (64 Zeilen), Urteilsverkündung (ca. 90 Zeilen, nur auf taz.de). Kein eigener Text, ausschließlich Agenturmeldungen.
Nun ist die Entscheidung, in welchem Umfang eine Zeitung ein Thema behandelt, oft vom Zufall bestimmt. Doch nicht jedes unabsichtlich zustande gekommene Ergebnis ist auch ein zufälliges. Und sicher gibt es im linken und linksliberalen Milieu die Scheu, sich mit Ehrenmorden und Zwangsehen zu beschäftigen. Weil das Thema den falschen Leuten nützt. Weil schon der Kolonialismus, wie Frantz Fanon notiert, mit der Unterdrückung von Frauen argumentierte. Weil der Diskurs über patriarchale Verhältnisse unter Einwanderern oft in einem pauschalisierenden und altväterlichen Tonfall geführt wird.
Dabei ist der Fall Arzu höchst aufschlussreich: Ihre Familie war bestens „integriert“: Abitur hatte Arzu nicht gemacht, sondern ihre ältere Schwester Sirin. Diese arbeitete in der Stadtverwaltung, die Brüder hatten Handwerksberufe gelernt. Der Fall widerlegt die Neigung, die Bildung zum Allheilmittel zu verklären wie den vulgärmarxistischen Lehrsatz, dass allein das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme. Er widerspricht dem Abwehrreflex, Ehrenmorde und Zwangsehen allein unter dem Stichwort Patriarchat zu verbuchen.
Zugleich widerspricht der Fall der Übung, Ehrenmorde direkt aus dem Koran abzuleiten. Denn die Özmens sind deutsch-kurdische Jesiden, eine alte Glaubensgemeinschaft, die keine Ehen mit Nichtjesiden erlaubt. Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ zählt sie zu den „bedrohten Gemeinschaften“. Eine andere Frage stellt dieser Verein aber nicht: Ist es gut oder nicht, wenn das Jesidentum verschwindet?
Damit das keiner falsch versteht: Dem Völkermord an den Armeniern fielen auch Jesiden zum Opfer, heute noch werden sie in der Türkei, im Irak, Syrien, Georgien und Armenien benachteiligt und zuweilen verfolgt. Das ist nicht zu rechtfertigen. Wer sich aber über das Verschwinden einer Kultur beklagt, jedoch nichts von internen Unterdrückungsverhältnissen wissen will, könnte sich ebenso gut darüber beklagen, dass durch Penicillin die Selbstregulierung der Natur mittels Masern und Scharlach zerstört worden sei.
Besser: Der religiöse oder kulturelle Brauchtum, der sich nicht modernisieren will oder kann, verschwindet. Nicht durch Gewalt, sondern durch die Arzus dieser Welt. Etwas Besseres als die Tradition finden sie allemal. Nur schützen muss man sie.