: Österreichisches Stöffchen
Nicht entkernt, sondern enthüllt, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich ganz und gar verloren und alles andere als widerstrebend: Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ unter Dimiter Gotscheffs Regie im Deutschen Theater
VON HANNAH PILARCZYK
Der wichtigste Akteur des Abends hängt in einer mächtigen Stahlkonstruktion von der Decke. Vier Musiker haben sich auf der Metallballustrade eingefunden: Violine, Schlagzeug, Tuba und Hackbrett. Sie spielen viel Strauß und ein wenig Pizzicato, manchmal machen sie nur Rabatz. In den Spielpausen schauen sie auf die Schauspieler unter sich herab. Warum sie der wichtigste Akteur des Abends sind? Weil ihre Musik der einzige Antrieb ist, den die Figuren unter ihren Füßen noch haben.
Nicht entkernt, sondern enthüllt hat Regisseur Dimiter Gotscheff das Ensemble. Wie zuletzt bei seinem wunderbar ätherischen „Iwanow“ an der Volksbühne hat er die Schauspieler auf eine leere, mit einer bloßen Wand abgeschlossene Bühne verfrachtet. Dort sitzen sie nun rum, allein ein paar Stühle sind ihnen als Unglückskrücken anbei gestellt. Und so lassen sie ihre „Geschichten aus dem Wienerwald“ passieren.
Es ist mehr eine Bedrängung als ein Besuch, den Alfred (Peter Jordan) seiner Großmutter abstattet. Mit seinem Kompagnon, dem Hierlinger Ferdinand (Martin Brauer), macht er der Alten seine Aufwartung, um ihr umso brutaler die alsbaldige Abreise unter die Nase zu reiben. Und auch die alternde Geliebte Valerie (Almut Zilcher) bekommt die Präpotenz des Kleinganoven Alfreds zu spüren. Lang genug hat er sich von der reichen Witwe aushalten lassen. Schließlich stolpert Alfred in die Verlobungsfeier von Oskar und Marianne. Der Metzgersohn hat sich gerade die Tochter des Zauberkönigs zur Braut genommen, ihr bisschen Gezappel dabei konnte man wirklich nicht als Weigerung verstehen. So freiwillig überrumpelt steht Marianne (Fritzi Haberlandt) auf ihrer Verlobungsfeier am Badesee herum und lässt sich von Alfred gleich noch mal überrumpeln.
Während sich das Ensemble aufs Wunderbarste trockenschwimmt, nähern sich die beiden unwahrscheinlichen an und üben sich im Trockenlieben. Doch was für Alfred nur eine Affäre ist, wird für Marianne zum Lebenstraum. Sie kündet die Verlobung mit Oskar auf und kürt Alfred kurzerhand zum Mann ihres Lebens und Vater ihres zukünftigen Kindes. Mit erstmals sicheren Schritten läuft sie auf den Abgrund zu.
Ein „Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“, so hat Erich Kästner immer gültig Ödön von Horváths Werk genannt. Gotscheff hat dem Stück aber genau dieses sich selbst Widerstrebende genommen. Albern, manchmal unerträglich sind seine Figuren. Außer ihrer Aggressivität ist alles an ihnen selbstbezogen. Keine Spur von gesellschaftlicher Konvention, die den Menschen bei Horváth ständig mit ihrem Traum vom ganz persönlichen Glück zusetzt.
Nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich verloren walzen die Schauspieler so über die Bühne und versuchen vergeblich, Zusammenhang herzustellen. Nur wenn die Musik erklingt, zucken sie gemeinsam zum Vorgegebenen. Was sie sonst bewegt? Wer weiß. Sebastian Blomberg spielt dabei den Oskar als Bauern ohne Schläue, dafür mit Sprachfehler. Fritzi Haberlandt, die an diesem Abend ihr Debüt am DT gibt, spielt als Marianne – mal wieder – das Mädchen mit dem ungelenken Etwas, das sich – mal wieder – den Rock über die Ohren ziehen lassen muss. Ihr feiner Witz verhallt in der gut ausgeleuchteten Leere der Bühne, weil dort keine Dramatik ist, an dem er sich brechen kann. Ihr schlusswörtliches „Jetzt kann ich nicht mehr!“, spricht dem Publikum nach fast drei Stunden unangenehm aus dem Herzen.