: Vier Beine für Hartz IV
Er ist billig. Er ist robust. Er ist abwaschbar. Er ist bequem. Und er ist überall: Ein banaler Garten- und Bistrostuhl, millionenfach aus preisgünstigem Kunststoff gegossen, hat sich ebenso beiläufig wie weltweit zur meistverbreiteten Sitzgelegenheit unserer Epoche entwickelt. Wie konnte das passieren?
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Wahrscheinlich werden auch Sie gerade eben noch irgendwo darauf gesessen haben. Bei ihrem Italiener. Oder in ihrem Garten. Weniger wohl im irakischen Hochsicherheitsgefängnis Abu Ghraib, obwohl der weiße, leicht flexible Plastikstuhl auch dort auf den Gängen und in den Zellen steht. Aufgefallen ist er Ihnen vermutlich kaum. Scheint er sich doch ganz in seiner Funktion als banalste aller Sitzgelegenheiten zu verlieren.
Das Möbel stammt von Obi, Hornbach oder Praktiker. Aus dem Baumarkt also, nicht einmal von Ikea. Es kostet etwa zehn, manchmal auch nur vier Euro. Und ist mindestens so platzsparend stapelbar, wie es die Väter des Bauhauses oder der Ulmer Hochschule für Gestaltung einst dem industriell gefertigten Sitzmöbel beigebracht haben. Nur dass sich der Monobloc, wie dieser Stuhl von seinen Produzenten wegen der Tatsache, dass er aus einem Stück geformt ist, genannt wird, kaum um eine solche Designhistorie schert.
Für seine Benutzer und Besitzer ist er ohnehin ein namenloses Möbel. Wahrgenommen und ausgesucht kaum aufgrund irgendwelcher positiver, sondern einzig wegen seiner fehlenden negativen Eigenschaften: Der Plastikstuhl ist nicht teuer; er verbraucht keinen unnötigen Raum; er wiegt nicht viel; er ist nicht schmutzempfindlich, oder zumindest unkompliziert abwaschbar.
Spätestens mit der Nachkriegsmoderne ist auch die Geschichtsschreibung warenförmig geworden. Das Bewerten einer Gegenwart und mehr noch das Erinnern an sie nimmt immer häufiger die Form von Dingen, ja Produkten an. Da gab es Turnschuhgenerationen und eine Generation Golf.
Für die Sozialwissenschaftler Alexander Mitscherlich und später Pierre Bourdieu waren es die Eigenheime, die viel über eine Zeit und ihre Zeitgenossen erzählten. Jean-Luc Godard und Jacques Tati erklärten das Automobil zur Metapher des gesellschaftlichen Miteinanders, anzuschauen in ihren Filmen „Week-end“ und „Trafic“. Was nun, wenn man solche Talente auch einem Stuhl unterstellen wollte? Zumal dem meistverkauften Möbel der Gegenwart?
Der Stuhl war ein Fetisch der Moderne. Er wurde gleichsam zum Symbol einer demokratisierten Massenkultur und exklusiver Warenversprechen. Gerade die Stapelstühle und -hocker eines Charles Eames oder Egon Eiermann, eines Arne Jacobsen oder Alva Aalto, entworfen für enthierarchisierte, offene Wohnlandschaften und die Gemeinschaftsinn stiftenden Einrichtungen der Demokratie, die Schulen und Bibliotheken, sind längst zu Luxusartikeln geworden. Ausgestellt von einer urbanen Boheme, die das gute Design von einst als kulturelles Kapital erkannt hat. Und vielleicht auch als sentimentale Reminiszenz an eine Epoche, in der gesellschaftliche Utopien buchstäblich greifbar geworden waren: als formal einwandfrei gestaltete Dinge in den Warenlagern der Konsumlandschaften.
Dem Monobloc, dem weißen Plastikmöbel aus dem Bauhaus, sind solche symbolischen Erhöhungen fremd. Er macht sich lieber klein, wird in unserer wenig utopischen Gegenwart zum Begleiter der fragilen Lebensstile. In Haushalten, in denen stilistische Fragen vor allem vom fehlenden ökonomischen Kapital beantwortet werden – Pierre Bourdieu nannte dies einmal einen „proletarischen Notwendigkeitsgeschmack“ –, hat er es schon bis zum Küchenstuhl gebracht. Ein Hartz-IV-Möbel, als das es auch die voyeuristischen Dokutainmentformate des Privatfernsehens immer wieder inszenieren. Wo dieser Stuhl ist, ist die Tragödie nicht weit. Tine Wittler hat ihn in ihrer Einrichtungsshow „Wohnen nach Wunsch“ mehr als einmal aus Mietskasernenküchen entfernt.
Vielleicht auch deshalb scheint dem Kunststoffstuhl ein schlechtes Gewissen tief in seine Plastikoberfläche eingeschrieben. Immer noch bemühen sich seine Produzenten, die Erscheinungsformen traditioneller Sitzmöbel zu suggerieren. Imitieren sie mal eine Holzmaserung, ein anderes mal ein mediterranes Ratangeflecht. Oder handelt es sich hierbei bereits um das selbstbewusste, postmoderne Spiel mit den Zitaten, den überheblichen Blick zurück in Stuhlvergangenheiten?
Als der postmoderne Entwerfer Philippe Starck in den frühen neunziger Jahren einen Sessel aus preisgünstigem Kunststoff gießen ließ, war das Ergebnis Kunst, ausgestellt zum Beispiel im Berliner Kunstgewerbemuseum. Als etwa gleichzeitig ein weißer Garten- und Bistrostuhl aus preisgünstigem Kunststoff gegossen wurde, war das Ergebnis ein preisgünstiger Garten- und Bistrostuhl, ausgestellt in den Baumärkten der Welt.
„Ich glaube“, so hat es der dänische Designer Arne Jacobsen, einer dieser Stuhlikonen-Schreiner, einmal gesagt, „Fertigprodukte und Industriedesign machen den Menschen nachbarschaftlicher. Das Statussymbol in den kleinen Dingen verschwindet.“
Wäre ein Statussymbol nun aber etwas, in das der Status quo, der Zustand der Welt unmittelbar eingeschrieben ist, so hätte sich Jacobsen wohl geirrt: Im Irak wie in Ilmenau ist der aus flüssigem Kunststoff gegossene und gestanzte Einteilstuhl eben ein solches Statussymbol, Zeuge und Zeitgenosse einer kurzatmigen, vergesslichen Epoche.
Ein Stuhl für das heute, ein radikales Bekenntnis zum Jetzt. Weil schon morgen wieder ein Krieg, ein Konkursverfahren oder irgendeine andere Krise die Flüchtigkeit der schönen Dinge ins Gedächtnis rufen könnte.
Der Einteilstuhl landet dann auf einem Sperrmüllhaufen und wird schon wenige Minuten später einen neuen Besitzer finden. Er, dieses radikal pragmatische Möbel.
War eine solche Pragmatik, war eine Produktgestaltung, die sich radikal ihrer Funktion und mehr noch ihren industriellen Produktionsbedingungen unterwirft, nicht einst das große Heilsversprechen der so genannten klassischen Moderne? So gesehen ist das Baumarktmöbel tatsächlich eine Designikone.
Andererseits: Muss sich ein Bestseller, muss sich das meistverkaufte Möbelstück der Gegenwart mit solchen Stilfragen aufhalten? Dieser alltägliche Mythos, der nicht einmal groß um die Gunst der Kunden werben musste. Der sich breit gemacht in den Gärten, auf den Plätzen, in der gestalteten Welt. Ob sich das MoMA in New York, jenes wohl vollständigste Archiv warenförmiger Alltagskultur schon ein paar Exemplare gesichert hat? Denn letztlich wird ein künftiger musealer Blick auf diese, unsere Gegenwart um diesen Stuhl kaum herumkommen.
In einer radikal jetztzeitigen Pop- und Reflexionskultur hat sich der Einteilstuhl übrigens längst etabliert. In Musikvideos ist er schon gesichtet worden und in Volksbühnen-Inszenierungen. Der Berliner Künstler Jens Thiel hat bereits einen Galerieraum mit ihm ausgestaltet. Und Aufnahmen aus aller Welt gesammelt, die immer diesen einen plastikweißen Hauptdarsteller haben. Auf einer Fotografie hält Jassir Arafat einen zerbrochenen Monobloc in den Händen. Ein Attentat? Denn so leicht ist dieser Stuhl nicht kaputtzukriegen.