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Archiv-Artikel

Die unpolitische Nackte

OHNE Sie finden Nacktproteste aufdringlich und FKK spießig. Aber sie ziehen sich gern aus. Eine Tour mit neuen Nackten

Ausziehen!

Die Geschichte: Um 1900 war es die Flucht aus dunklen, staubigen Hinterhöfen raus in die Natur. Ausbruch aus der Bürgerlichkeit, Gegenbewegung zur Verstädterung, Körperkult – die Freikörperkultur hatte viele ideologische Wurzeln. Mit der Achtundsechziger-Bewegung verließen Nackte die Absperrungen der Vereine. Seit den Siebzigern haben sich die FKK-Mitgliederzahlen mehr als halbiert.

Der Sport: Seit 2003 findet jährlich ein Weltnacktradeltag statt. Die Beteiligung wächst.

Das Buch: Anita und Wolfgang Gramer: „Schöner sexen. Anleitung zum Ausziehen“ – 256 Seiten „mit 215 farbigen Abbildungen“.

VON LUISE STROTHMANN

Cornelia schaut Anita an und sie schaut neidisch. Wegen der Schuhe. Klar, Anita Gramer ist schön, sie hat diese perfekte streifenfreie Bräune, diese unaufdringlich richtigen Proportionen, sie strahlt, sie lacht, sie schwebt. Aber vor allem hat sie leichte Wildledersandalen. Cornelia Krause trägt Socken und schwarze Lederstiefeletten zum Nichts.

Sie hat keine Sandalen dabei, weil sie bis vor kurzem gar nicht wusste, dass sie an diesem Tag nackt durch Brandenburg radeln würde. Cornelia Krause, 41, Studentin der Molekularbiologie aus Berlin, kam eigentlich hierher, um mit ihrem Geliebten in einem hellblauen Holzhäuschen Urlaub zu machen, der Gästewohnung des Naturistenpaares Anita und Wolfgang Gramer. Die fragten ihre Gäste, ob sie auf eine Radtour an die Ostsee mitkommen wollen. Nackt.

Anleitung zum Ausziehen

Die Menschen, die an diesem Morgen neben Cornelia ihre Satteltaschen festzurren, stehen für die mindestens dritte Generation moderner Nackter. Anita und Wolfgang Gramer haben gerade ein neues Buch zum Thema geschrieben. Titel: „Schöner sexen. Anleitung zum Ausziehen“, auf dem Umschlagfoto steht Anita Gramer nackt in der Sonne und hält ein Feigenblatt in die Höhe. Die beiden beschreiben, wer sie sind – und wer nicht.

FKKler zum Beispiel. „Die FKK-Bewegung ist spießig“, sagt Wolfgang Gramer. Angefangen habe es um 1900 mit Modernisierungkritik und Egalitarismus, aber heute gehe es nur noch um Vereinsgefühl – um Kleingarten. „Die lassen sich ghettoisieren.“ Protestnackte wollen die Gramers aber auch nicht sein. Politisches Ausziehen in den Sechzigern, Rufe nach dem Menschenrecht auf Nacktsein wie die des Sexualtherapeuten Peter Niehenke – „das ist uns zu missionarisch“, sagt Anita Gramer.

Die neuen Nackten interessieren sich nicht für Vereine und Ideologien, sie interessieren sich für sich selbst. Für das Ablegen ihrer katholischen Erziehung. Für den Kampf mit der eigenen falschen Scham. Für das Kitzeln auf der Haut.

„Auf das Kitzeln könnte ich verzichten“, sagt Cornelia Krause. Sie schiebt ihr Rad den Sandhang hinterm Haus herauf, das lange Gras streift ihren Oberschenkel, mit einer schnellen Handbewegung reibt sie über die Stelle. Auf dem Feldweg steigt sie auf. Den Sattel hat Cornelia mit einem Tuch gepolstert. Langsam fährt sie an, die Reifen federn, ihre Flanken vibrieren im Takt. „Ich fühle mich schon gut, viel näher an der Natur.“ Aber an das erste Dorf will sie noch nicht denken. Die drei Paare haben über 200 Kilometer vor sich.

Der Weg führt an einer Bundesstraße entlang. Die Gruppe wird still, tritt, fährt. Autofahrer drehen die Köpfe, ein junges Paar schaut starr geradeaus, niemand hupt, niemand ruft. Cornelia Krause hat trotzdem Angst, sie zu bedrängen. „Wenn man etwas für sich selbst gut findet, neigt man dazu, es auch für andere zu wollen“, sagt sie. Sie habe genug demonstriert. Für mehr Fahrradverkehr, gegen rechts natürlich, für Polyamory – Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen. „Ich will nicht so ins Demonstrative gehen.“

„Die Botschaft bin ich“

ANITA GRAMER

Aber sich deshalb jedes Mal vor dem Ortsschild etwas anziehen? „Ich möchte einfach nur machen können, womit ich mich gut fühle“, sagt Anita Gramer. „Und eben auch dann, wenn ich in der Öffentlichkeit bin.“ Die 36-Jährige war Referendarin am katholischen Gymnasium, als sie den 30 Jahre älteren Wolfgang Gramer traf. Das Nacktsein hat etwas vom Ausziehen ihrer Vergangenheit. Jetzt will sie einfach Pippi Langstrumpf sein. „Das normale Leben ist doch langweilig.“ Radikalindividualismus – mit Neigung zum Anarchismus, sagt Anita Gramer.

Ernsthaft Ärger bekommen hat sie dafür nie. Nacktsein ist in Deutschland nicht verboten. Für Erregung öffentlichen Ärgernisses, Artikel 183a Strafgesetzbuch, oder Belästigung der Allgemeinheit, Artikel 118 Ordnungswidrigkeiten-Gesetz, muss eine sexuelle Absicht da sein. Die Streifenpolizisten, die am Dorfeingang gerade einen Unfall aufnehmen, heben nicht mal den Kopf.

Eine Frau, die mit einer anderen an einer Haustür steht, sagt laut: „Sieht zwar scheiße aus, aber es kann ja jeder machen, was er will.“ Dabei sind alle in der Gruppe landläufig hübsch, schlank und intimrasiert, wie auf den Fotos in den Büchern der Gramers. Nach dem Lesen von „Schöner sexen“ fragte eine befreundeter Heilpraktiker gar: „Wo sind die Dicken, wo sind die amputierten Brüste, wo die herausgestülpten Hämorrhoiden?“

„Es ist schade, dass Menschen den natürlichen Anblick von Menschen nicht mehr ertragen können“, sagt Anita Gramer. Deshalb gibt sie Seminare im Anfassen, veranstaltet Nacktwanderungen und Fahrten wie diese. Der Unterschied zum Missionarischen? „Die Botschaft bin ich“, sagt Anita Gramer. Und diese Botschaft darf jeder sehen.