berliner szenen: Viel Schönes in der Kindheit
Beim Reha-Sport werden viele Leidensgeschichten ausgepackt. Nur die beiden Frauen an den Beinpressen trainieren stumm. Die eine hat ein neues Knie, sie ist Ende 70, die andere könnte ihre Enkelin sein, nach einem Beinbruch muss sie ihre schlappen Muskeln aufbauen. Seit zwei Wochen begegnen sie sich hier. Erst beim letzten Termin fragt die Enkelin: „Und wo kommst du her?“ Die alte Frau guckt erstaunt, sie hat nicht verstanden, dass sie eigentlich nach ihrem Wohnbezirk gefragt wurde. Hastig wie unter Zeitdruck legt sie los: Sie kommt aus Dresden. 1981 ist sie nach ungezählten Anträgen in den Westen ausgereist, erst mal nach Bayern. Immer wieder war ihr die Stasi auf den Fersen gewesen, ein Vetter hatte sie wegen aufmüpfiger Kommentare angeschwärzt, immer wieder musste sie ihren Söhnen einschärfen, sich von niemandem ausfragen zu lassen. Und auf keinen Fall als Berufswunsch Arzt anzugeben, auch künftige Mediziner wurden nicht rausgelassen. Selbst als sie schließlich die Fahrkarte in den Westen hatte und mit den Kindern in einem fast leeren Wagon saß, drängelte sich ein einzelner Mann mit ins Abteil.
Die Enkelin hört wie elektrisiert zu, sie kennt so was nur aus dem Kino. Sie hakt nach und fragt weiter, und es stellt sich heraus, dass die alte Frau zum ersten Mal von damals erzählt. Sie hat sich in ihrem neuen Leben eingerichtet und über 40 Jahre den Mund gehalten über das alte. Ihre Söhne wollten das so, sie wollten nichts mit der DDR zu tun haben. Wenn sie in der neuen Schule gefragt wurden, woher sie stammen, nannten sie Bayern. Die Enkelin kann das nicht verstehen, man muss doch über seine Kindheit reden, da gab es doch bestimmt auch viel Schönes. „Na klar“, bestätigt die alte Frau, „davon erzähle ich dir, wenn du dir das nächste Mal die Haxen gebrochen hast.“
Claudia Ingenhoven
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