Patient Kultur

„Zu viel Geld für Kultur schadet nur“, prangt als Losung auf dem Umschlag der kürzlich erschienenen Streitschrift „Der Kulturinfarkt – Von allem zu viel und überall das Gleiche“. Die Hälfte der mit öffentlichem Geld subventionierten Kulturinstitutionen sei verzichtbar – das ist die These der Autoren Armin Klein, Dieter Haselbach, Pius Knüsel und Stephan Opitz. In deutschen Feuilletons wurden sie gefeiert – oder zerrissen, als seien sie die vier Reiter der kulturellen Apokalypse. Die Kontext:Wochenzeitung hat sich mit Armin Klein über sein provokantes Buch unterhalten

Mathias Staber im Gespräch mit Armin Klein

¿Herr Klein, das Buch „Der Kulturinfarkt“ hat heftige Reaktionen ausgelöst, teilweise üble Verrisse. War das Absicht?

Formulieren wir es mal positiv: Wir Autoren des Buches sind seit dreißig Jahren im Kulturbetrieb. In den verschiedensten Positionen, sei es in der Beratung, an der Hochschule oder in der Politik, kämpfen wir mit den Problemen, die wir in dem Buch benennen. Ich gehöre seit sechs Jahren zum Vorstand der Kulturpolitischen Gesellschaft, also der Einrichtung, die sich intensiv mit der Weiterentwicklung der Kulturpolitik befasst. Und wir stellen fest: Wir können Bücher schreiben, wir können eine Enquete-Kommission haben, die 750-Seiten-Berichte vorlegt. Das lässt alle kalt. Es wird weitergemacht wie bisher. Deshalb dachten wir: Okay, wir schreiben jetzt mal „kein hilfreiches Buch“, wie Frau Merkel sagen würde, sondern ein Buch, das die Probleme in aller Schärfe benennt. Damit, dass es heftige Reaktionen geben würde, haben wir gerechnet. Damit, dass diese Reaktionen teilweise dermaßen persönlich unter die Gürtellinie gehen würden, nicht.

Woran liegt das? Sind das alles beleidigte Leberwürste, die Pfründe sichern wollen?

Das glaube ich nicht. Ich denke, wir haben einfach einen Nerv getroffen. Dass die Leute so bitter reagieren, liegt daran, dass wir Insider sind. Wir sind nicht die bösen Finanzmenschen, nicht die üblichen Verdächtigen, die der Kultur an den Kragen wollen, sondern wir haben ein Familiengeheimnis ausgeplaudert. Darauf reagieren Menschen immer gereizt. Als Strategie gegen uns wurden uns dann Aussagen unterstellt, die wir nie getroffen haben. So warf uns der Deutsche Kulturrat vor, wir wollten die Hälfte der Kultursubventionen streichen, um die Haushalte zu sanieren.

Das wollen Sie nicht?

Nein. Uns geht es nicht um ein Sparprogramm. Wir stellen Fragen. Im Buch heißt es auf Seite 209: „Entwicklung darf, wenn man den Vertretern der Institutionen zuhört, nur stattfinden, wenn sie das Bestehende nicht gefährdet. Doch was wäre gefährdet, wenn die Hälfte der Theater und Museen verschwände, einige Archive zusammengelegt und Konzertbühnen privatisiert würden?“ 2.500 statt 5.000 Museen, 70 statt 140 Bühnen in Deutschland – wäre das wirklich die Apokalypse?

Sie wollen also nicht die Hälfte der Subventionen streichen, sondern die Hälfte der Kulturinstitutionen schließen.

Wir sagen aber nicht, dass wir das frei werdende Geld streichen wollen, sondern: Lasst uns das Geld umverteilen in Bereiche, die bisher bei der Förderung außen vor sind. Ein konkretes Beispiel: Nächstes Jahr ist Richard-Wagner-Jahr. Die Städtischen Bühnen in Mannheim führen den kompletten „Ring“ auf. Was passiert in Ludwigshafen, zwei S-Bahn-Stationen entfernt? Sie führen den kompletten „Ring“ auf. Da stellen wir die Frage, ob das Sinn macht, dass auf engstem Raum zweimal dieses Riesending aufgeführt wird, dessen Kosten sich im Millionenbereich abspielen. Ist es wirklich nötig, dass wir in der Kultur alles doppelt und dreifach haben und deswegen, das ist der entscheidende Punkt, andere Dinge nicht fördern? Das Grips-Theater steht vor dem Konkurs, ihm fehlen 125.000 Euro. Die Stadt Berlin bekommt 125.000 Euro nicht auf die Reihe, unterhält aber drei Opernhäuser.

Der gegenwärtigen Kulturförderung fehlt es an Kriterien für Qualität und damit an Kriterien für Förderwürdigkeit: Das ist eine der Diagnosen, die Sie stellen. Wie sehen denn Ihre Kriterien aus, die Sie brauchen, um Geld umverteilen zu können?

Qualität kann heute kein alleiniges Kriterium mehr sein, weil in der Zeit der Postmoderne letztendlich alles geht. Deswegen sind an die Stelle des Qualitätskriteriums die Förderprogramme derjenigen getreten, die genau das fördern, was in diese Programme reinpasst. Dagegen wollten wir andere Gesichtspunkte für Förderwürdigkeit ins Spiel bringen. Für mich gehört zu diesen Überlegungen ausdrücklich die Frage, wie ein Kulturangebot angenommen wird. Warum soll ich eine Kultur fördern, die immer weniger Leute interessiert? Wir haben gegenwärtig bei öffentlichen Theatern einen Eigenwirtschaftsanteil von 18 Prozent. Ein Kriterium unter vielen könnte sein, diesen Anteil schrittweise wieder auf 30 Prozent zu bringen. Wer sagt, das würde nicht funktionieren, muss sich Gegenbeispiele vorhalten lassen: Das Festspielhaus Baden-Baden funktioniert, was den Betrieb angeht, völlig ohne Zuschüsse. Als Gegenargument kommt dann meist: Wir spielen halt so ausgefallene Sachen, die nur wenige Menschen sehen wollen.

Warum ist diese Diskussion so dringlich?

Es kommen 6,3 Prozent Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst. Das bedeutet für die Theater: in diesem Jahr 56 Millionen Euro Mehrkosten, im nächsten Jahr 100 Millionen, ohne dass künstlerisch mehr passiert als bisher. Dieses Geld muss aufgebracht werden, darüber wird gar nicht diskutiert.

Die institutionalisierte Kultur wird immer teurer und erreicht immer weniger Leute. Daran müssen wir etwas ändern, so Ihr Argument?

Das müssen wir gezwungenermaßen ändern. Was glauben Sie, was in diesem Jahr in Stuttgart los sein wird, wenn die Haushalte gemacht werden und die 6,3 Prozent durchschlagen? Der Rotstift wird zuerst an der freien Kulturarbeit angesetzt werden. Das ist ein Kernproblem. Die Diskussion, welche Kultur förderwürdig ist, wird in den deutschen Gemeinderäten schon lange nicht mehr inhaltlich geführt. Bei der freien Kulturarbeit fragt kein Mensch: Unter welchen sozialen Bedingungen arbeiten diese Menschen eigentlich?

Konkrete Streichungsvorschläge sind von Ihnen aber nicht zu bekommen?

Dazu haben wir nicht die Lizenz. Wir können nur Anregungen geben. Dazu noch ein Beispiel: Wir haben neben den Musikschulen in kommunaler Trägerschaft mittlerweile über 450 private Musikschulen. Da kann man doch mal fragen, wie es die einen schaffen, bei gleichem Standard ohne Zuschuss auszukommen, während sich die anderen städtische Angestellte leisten.

Was ist denn daran schlecht, wenn ein Kind aus einer Familie, die es sich sonst nicht leisten könnte, in einer kommunal bezuschussten Musikschule ein Instrument lernt?

Daran ist gar nichts schlecht. Die Frage ist aber: Warum muss es die teuerste Variante sein? Natürlich bleibt die soziale Zugänglichkeit ein wichtiges Kriterium: Jeder muss die Chance haben, zu vernünftigen Preisen an der Kultur teilzunehmen. Das ist unabdingbar.

Die von Schiller herrührende Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschen bezeichnen Sie als vordemokratische Bevormundung des Bürgers, der doch eigentlich selber weiß, was er kulturell braucht.

Dass wir diese Denkfigur der ästhetischen Erziehung kritisieren, diese Idee, dass irgendwelche Leute darüber entscheiden, was der Bürger zu tun hat, als undemokratisch brandmarken, ist für viele Kritiker der eigentliche Skandal des Buches.

In Ihrem Buch machen Sie sich recht oft über die Vorstellung lustig, Kultur könne zur Besserung des Menschen beitragen. Warum ist das so lächerlich?

Weil der Bürger mündig ist. Die Bürger entscheiden in der Demokratie über alles und jedes, nur in der Kultur dürfen sie es nicht. Wenn ich in die Oper gehe, wird meine Karte mit 109 Euro subventioniert. Wenn mein Sohn ins Popkonzert geht, muss er 90 Euro aus eigener Tasche bezahlen. Wir bevormunden die Bürger dadurch, dass wir ganz bestimmte Dinge fördern und sagen: Wir wissen, was wichtig und gut für euch ist. Früher galt Jazz als schlechte Kunst, heute haben wir öffentlich geförderte Jazzfestivals. Was ist schlecht daran zu sagen: Der Bürger hat sein eigenes Urteil, also lasst ihn urteilen?

Sie fordern also eine Orientierung am Breitengeschmack, der aber auch „Bauer sucht Frau“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ beinhaltet.

Solche Dinge werden ja nicht gefördert. Wir formulieren es doch umgekehrt: Warum werden bestimmte Dinge gefördert, die nicht existieren würden, wenn sie nicht gefördert würden? Nehmen Sie den gesamten Bereich der zeitgenössischen E-Musik: Der funktioniert nur durch eine umfangreiche Förderung.

Wenn Zwölftonmusik kein Publikum findet, kann sie auch gleich vom Markt verschwinden?

Wir stellen das zur Disposition. Thomas Steinfeld hat in der Süddeutschen Zeitung gefragt: Wer tut mehr für die zeitgenössische Musik, die Donaueschinger Musiktage oder das Label ECM, das ein breites Spektrum zeitgenössischer Musik anbietet, für das die Leute bezahlen?

Kunst, die nur auf wenig Interessierte stößt, hat also keine Existenzberechtigung. „Zettel’s Traum“ von Arno Schmidt können wir verklappen.

Ich bin großer Fan von Arno Schmidt, der ein schlechtes Beispiel für öffentliche Kulturförderung ist: Schmidt wurde von einem Privatmenschen gefördert und durch einen unendlich geduldigen Verlag. Drehen Sie das Argument doch mal um, von der Angebots- auf die Nachfrageseite: Wir haben in Deutschland sehr viele Literaturpreise und Stipendien, damit Literatur gefördert wird, die erst einmal schwer verkäuflich ist. Gleichzeitig bauen wir alles ab, was Nachfrageförderung bedeutet: Wir schließen Bibliotheken, wir streichen Leseförderung in der Schule. Als Oberbürgermeister ist es immer toller, einen Literaturpreis zu verleihen, als 20.000 Euro in die Leseförderung zu stecken. Als Folge wird immer weniger gelesen, aber immer mehr produziert.

Um bestimmte Formen der Kultur genießen zu können, braucht es Geschmacksbildung: Das ist von der Nachfrage her gedacht. Damit wären wir wieder bei der ästhetischen Erziehung, also bei Zwang und Bevormundung.

Ästhetische Erziehung soll da sein, wo sie hingehört: in Schulen. Wir kritisieren ausdrücklich den Abbau der musischen Erziehung in den Schulen. Aber irgendwann ist der Bürger mündig, hat sich sein Urteil gebildet oder eben von der Kultur abgewendet. Es sind doch keine schlechten Menschen, die keine Kulturangebote nutzen, sondern etwas anderes mit ihrer Zeit und ihrem Geld anfangen. Ab dem 20. Lebensjahr muss Schluss sein mit der ästhetischen Erziehung. Optimistisch gerechnet, interessieren sich sieben Prozent der Bürger für Kultur. Aber alle müssen bezahlen. Wer jetzt sagt, Schwimmbäder werden auch gefördert, obwohl sie nur von wenigen genutzt werden, dem antworte ich: Über die Schließung von Schwimmbädern wird in jeder Kommune diskutiert. Warum soll es in der Kultur anders sein?

Sie kritisieren also die Sonderstellung der Kultur?

So ist es. Und wir wollen eine Umverteilung der Gelder in Bereiche, die bislang unter den Tisch fallen, etwa in die Kultur von Migranten. Und in die Kultur- und Kreativwirtschaft: Es sollten junge Menschen gefördert werden, die im kulturellen Bereich arbeiten und damit Geld verdienen wollen. Wie schaffen wir es, dass diese Menschen etwas Eigenes auf die Beine bekommen? Stichwort „Risikokapital“.

Also Unternehmensgründungen im Kulturbereich finanziell unterstützen, anstatt immer mehr Menschen an den Tropf der öffentlichen Kulturförderung zu hängen?

Genau. Es ist doch aberwitzig, zum Beispiel immer mehr Orchester zu finanzieren, damit alle Musiker, die wir an den Hochschulen ausbilden, unterkommen. Wegzukommen von der ständig auf den Staat fixierten Kultur, das ist der Punkt, auf den es uns ankommt.

Sie sagen: Wer nachfragegerecht produziert, ist innovativ. Ist das nicht naiv?

In dem Buch finden sich viele provozierende Formulierungen, die dazu dienen sollen, die Diskussion anzustacheln. Aber etwas dran ist schon: Werbung ist doch oft interessanter als ästhetische Experimente auf der Bühne, einfach, weil die Werber gezwungen sind, Aufmerksamkeit zu erregen. Und wer heutzutage Aufmerksamkeit erregen will, muss innovativ sein.

Auf Seite 39 in dem Buch gibt es das Gegensatzpaar „weiß, europäisch, reflektiert“ auf der einen, und „farbig, nicht europäisch, naiv“ auf der anderen Seite. Da musste ich schlucken.

Uns geht es darum zu fragen: Warum findet so wenig migrantische Kultur im Rahmen von Kulturförderung statt? Wir haben unsere Förderrichtlinien so germanozentrisch ausgelegt, dass andere Kulturen ausgeschlossen werden. In unserem Buch ist vieles ironisch und überspitzt formuliert. Es geht darum, eine lange überfällige Diskussion in Gang zu bringen. Vor fünf Jahren habe ich das Buch „Der exzellente Kulturbetrieb“ herausgebracht, mit 375 „hilfreichen“ Seiten. Bewirkt hat das Buch, trotz dreier Auflagen, rein gar nichts. Über den „Kulturinfarkt“ wird geredet. Um Beton aufzubrechen, brauchen Sie einen betonbrechenden Zünder.

Ihre provozierenden Thesen sollen also Aufmerksamkeit erregen?

Mit dem Ziel, ein dringliches Thema in den Blickpunkt zu rücken: Kultur muss endlich wieder anfangen, sich zu legitimieren. Kultur hat sich der Legitimation entzogen, und wenn es schiefgeht, wird Remmidemmi gemacht. Das wird in Zukunft so nicht mehr funktionieren. Wir erleben in anderen Bereichen gewaltige gesellschaftliche Umbrüche: Wir schaffen die Wehrpflicht ab. Wir schließen Schulen. Wir machen eine Energiewende, ein Kraftakt ohne Ende. Nur in der Kultur wird dichtgemacht, sie entzieht sich der Diskussion über den gesellschaftlichen Wandel, mit dem Argument: Wir sind ein Kulturstaat, und wer daran rüttelt, macht dieses Land kaputt. Warum hat die Kultur so viel Angst, dass sie sich dieser Diskussion nicht stellt?

Armin Klein, 60, ist seit 1994 Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der PH Ludwigsburg. Von 1979 bis 1981 war der studierte Germanist, Philosoph und Politikwissenschaftler leitender Dramaturg am Theater am Turm in Frankfurt a. M., von 1981 bis 1994 Kulturreferent der Stadt Marburg/Lahn.