Die große Wende

ÜBERGANG Der Shakespeare-Biograf Stephen Greenblatt erzählt in seinem neuen Buch vom Beginn der Renaissance und unserer modernen Weltsicht

VON ANDREW JAMES JOHNSTON

Ein Mythos lehrt, dass die Renaissance eine Zeit der Erfindungen und Entdeckungen war. Zwar stimmt dies nur bedingt, aber eine Erfindung gibt es durchaus, die wir der Renaissance verdanken: das finstere Mittelalter.

Indem sich die Renaissance von ihrer unmittelbaren Vergangenheit löste, inszenierte sie den größten historischen Bruch seit dem biblischen Sündenfall und lieferte eine Gründungslegende der westlichen Moderne, die bis heute wirksam ist. Dabei firmiert das Mittelalter stets als das Andere der Moderne. Was immer die Moderne gerade sein will, das Mittelalter stellt das Gegenteil dar: dunkel, abergläubisch oder naiv.

Inzwischen ist die Mär vom großen Bruch in die Jahre gekommen. Globalisierung, Postkolonialismus und andere Strömungen, die den westlichen Anspruch auf kulturelle Dominanz kritisieren, zweifeln am Mythos Renaissance. Auch ist das Konzept des Bruches, auf dem das Konstrukt „Renaissance“ ruht, zu simpel. Und längst stellt man die Legenden infrage, die den „neuen Menschen“ der Renaissance feiern: etwa dass die Bewohner fremder Welten europäische Entdecker regelmäßig für Götter hielten und deshalb leicht ausgebeutet werden konnten. Auch Stephen Greenblatt aus Harvard, der weltweit berühmteste Shakespeare-Forscher, stützt sich auf solche Geschichten.

Sein neues, auf ein breites Publikum zielendes Buch erzählt, wie der Humanist Poggio Bracciolini 1419 ein verlorenes Manuskript wiederentdeckt: De rerum natura („Von der Natur der Dinge“), eine Dichtung des Römers Lukrez, die die epikureische Philosophie erläutert. In Antike und Mittelalter waren die Epikureer verschrien, weil sie glaubten, dass die Welt aus Atomen bestünde und es daher keine unsterbliche Seele gebe, weshalb man sein Glück auf Erden suchen müsse. Für Greenblatt bildet die Entdeckung dieses verschollenen Gedichts eine zentrale Leistung der Renaissance, denn dieser Text ermöglichte es den Menschen angeblich, sich von der mittelalterlich-christlichen, auf Furcht gegründeten Weltsicht zu lösen und ungeniert das Glück zu suchen.

Greenblatt stilisiert Poggio zum Helden, der einen Akt des Fortschritts vollzieht und das finstere Mittelalter mit seinen vermeintlich fanatischen, bildungsfeindlichen und schmutzigen Mönchen hinter sich lässt. Es ist so etwas wie das Standardklischee vom Renaissancemenschen, der sich als Einzelner gegen eine ganze Welt des Aberglaubens stemmt, der dem leibfeindlichen Mittelalter Lebewohl sagt und im Rückgriff auf die angeblich verlorene Antike die Sinnenfreude der Renaissance einläutet.

Streben nach Glück

Greenblatt bietet uns die Fabel vom schöpferischen Individuum, das eine ganze Epoche ausruft; vom Text, der die Welt verändert. Historisch sinnvoll sind diese Ideen nicht. Weder war der Einfluss des Lukrez so epochemachend noch so verbreitet, wie Greenblatt es gern hätte. Worum es Greenblatt mit seiner Geschichte eigentlich geht, wird erst am Schluss des Buches klar. Dort macht er einen großen historischen Sprung und gedenkt des gebildeten Gründervaters der USA, Thomas Jefferson, der sich einen Epikureer nannte und dafür mitverantwortlich war, dass das Recht eines jeden auf das Streben nach Glück Eingang in die amerikanische Verfassung fand.

So zeigt sich, wie brisant die Konstruktion des Gegensatzes von Mittelalter und Renaissance bis heute ist. In seiner Heldengeschichte setzt Greenblatt indirekt den christlichen Fundamentalismus in den USA mit der Religiosität des Mittelalters gleich. Greenblatt braucht das finstere Mittelalter als Folie, um den Amerikanern zu zeigen, dass ihre zentralen Werte einer antiken Tradition entspringen, die weder christlich noch fundamentalistisch noch erzkapitalistisch ist.

Er will sie lehren, dass das Streben nach Glück keine Formel darstellt, um einen Raubtierkapitalismus zu legitimieren, dem schon eine bescheidene allgemeine Krankenversicherung als gottloser Anschlag auf das Recht des Einzelnen auf das Streben nach Glück gilt.

Greenblatts Ziel mag ehrenhaft sein, sein Weg ist problematisch. Es wird ihm nicht gelingen, die Amerikaner von ihrer religiösen Rechten zu befreien, indem er einen historischen Mythos wiederbelebt, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert dazu diente, die Überlegenheit des Westens über den Rest der Welt zu legitimieren.

Am Ende leidet nicht nur das wieder einmal allzu finstere Mittelalter, sondern auch die historische Wahrheit der Renaissance, und das ist schade.

Stephen Greenblatt: „Die Wende. Wie die Renaissance begann“. Aus dem Englischen von Klaus Binder. Siedler Verlag, München 2012, 332 Seiten, 24,99 Euro