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Archiv-Artikel

Der Weg in den Schrecken

JAPANS RAF Von der Studentenbewegung zum antiimperialistischen Kampf, von Fememorden und weltweiten Anschlägen

Nicht 1968, sondern 1960 was das Schlüsseljahr für Japans Neue Linke. Das Jahr 1960 war das zentrale Jahr der Revolte in Japan. Die wichtigste Forderung der Bewegung war eine Revision des 1951 mit den USA abgeschlossenen Sicherheitsvertrags „Ampo“.

Als die Regierungen der USA und Japans diesen Vertrag unterzeichnet hatten, war Japan noch von US-Truppen besetzt. Entsprechend vorteilhaft war das Abkommen für die Amerikaner ausgefallen. Japan musste den USA 1.400 Militärstützpunkte zugestehen. Die USA mussten die japanische Regierung nicht informieren, wenn sie von japanischem Boden aus Militäraktionen starteten.

Antiamerikanische Linke

Ab 1957 spalteten sich vorwiegend Studenten von der Kommunistischen Partei Japans ab, organisierten sich im Bund der Kommunisten. Sie vertraten ein ideologisches Gemisch aus traditionellem Marxismus, Trotzkismus und existenzialistischer Philosophie. Aktivisten des Bunds und anderer Organisationen forderten Neutralität und den Abzug der US-Truppen. Bei einer Großdemonstration Ende November 1959 gelang es Hunderten Aktivisten, auf das Gelände rum um das Parlamentsgebäude in Tokio vorzudringen. Zwar kam es bald zu Rissen zwischen den moderaten Sozialisten und Kommunisten sowie den Radikalen der Neuen Linken, doch die Bewegung wuchs, bis zu 600.000 Menschen beteiligten sich an den Protesten gegen den Ampo-Vertrag.

Bei einem zweiten Marsch auf das Parlament kam es zu schweren Straßenschlachten zwischen Militanten und der Polizei, mit Tränengas und Steinen. Die Studentin Kamba Michiko kam dabei zu Tode, wobei bis heute ungeklärt ist, ob durch einen Polizeiknüppel oder ob sie im Gedränge zu Tode gequetscht wurde. In jedem Fall wurde sie – wie in Westberlin und der Bundesrepublik der Student Benno Ohnesorg – von den Linksradikalen zur unschuldigen Märtyrerin erhoben.

US-Präsident Dwight D. Eisenhower sah sich gezwungen, einen Besuch in Japan abzusagen, weil für seine Sicherheit nicht garantiert werden konnte. Doch die Linken konnten die Verlängerung des Ampo-Vertrags durch die konservative Regierung nicht verhindern und verstrickten sich in Fraktionskämpfe, die notfalls mit Knüppeln und Kanthölzern geführt wurden. Die weltweite Bewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam brachte auch in Japan einen Aufschwung der Neuen Linken, die an den Universitäten Gefolgschaft fand. Im Jahr 1969 hatte sich eine Gruppe unter dem Namen Sekigun-ha, Vereinigte Rote Armee, gegründet, deren Militärausschuss Ende 1969 erklärte: „Wenn ihr das Recht habt, unsere Gefährten in Vietnam nach Belieben zu töten, habe auch wir das Recht, euch nach Belieben zu töten.“

Westlich von Tokio

Kurz nach der Veröffentlichung dieser Kriegserklärung verhaftete die Polizei in den Bergen westlich von Tokio 53 angehende Revolutionäre einschließlich ihres Chefideologen. Sie hatten das Werfen selbstgebauter Sprengsätze für einen Angriff auf die Residenz des Ministerpräsidenten geübt. Doch die Polizei wusste dank mangelhafter Konspiration bescheid.

Eine Gruppe, die sich Vereinigte Rote Armee nannte, zog sich in die Berge zurück und exerzierte für die „Kommunisierung“ grausame Rituale der Selbstkritik. Auf Anordnung eines Führers und seiner Stellvertreterin schlugen und quälten die Militanten schwache Gruppenmitglieder zu Tode, ließen sie verdursten und erfrieren. Die Gruppe ermordete zwölf Mitglieder, die angeblich noch zu sehr dem bürgerlichen Denken anhingen. Zwei wurden hingerichtet, weil sie versucht hatten, dem irrsinnigen Ritual durch Flucht zu entkommen. Der Führer erhängte sich nach seiner Verhaftung im Gefängnis.

Als Polizisten Überlebende der Gruppe aufspürten, verschanzten sich fünf von ihnen in einer Bergvilla und nahmen die Frau des Hausmeisters als Geisel. Vom 19. bis zum 28. Februar 1971 belagerten rund 1.200 Polizisten die Rotarmisten, die letzten zehn Stunden wurden live im Fernsehen übertragen, der Marktanteil des Spektakels lag bei 98 Prozent. Beim Sturm des Hauses kamen zwei Polizisten zu Tode, die Geisel wurde befreit, die Rotarmisten wurden verhaftet.

Als die blutige Säuberung in den Bergen bekannt wurde, hatte die Gruppe so gut wie alle Sympathien bei den Linken verspielt. Die Rotarmisten galten den meisten Japanern fortan als psychopathische Monster. Ihr Weg zur Befreiung durch die Weltrevolution endete in Schrecken.

Dutzende von ihnen saßen Jahre isoliert in Untersuchungshaft. Sie bekamen härtere Strafen als die RAF-Mitglieder in Deutschland. Shigenobu kehrte heimlich aus dem Libanon nach Japan zurück, wurde im November 2000 in Osaka verhaftet und sechs Jahre später zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Zwei Rotarmisten, die bei den Fememorden eine führende Rolle gespielt hatten, wurden zum Tode verurteilt. Nagata Hiroko starb in diesem Jahr im Gefängnis. Skaguchi Hiroshi sitzt in der Todeszelle, ob das Todesurteil in absehbarer Zeit vollstreckt wird, ist unklar. MICHAEL SONTHEIMER