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Archiv-Artikel

Viele Carmen

TANZ Das Education-Projekt der Berliner Philharmoniker, Sasha Waltz und über 100 Kinder zeigten „Carmen“ in der Arena Treptow

Nicht umsonst heißt die Compagnie von Sasha Waltz „Sasha Waltz & Guests“, aber so viele Gäste wie bei der „Carmen“, die in der Arena in Treptow gezeigt wurde, hatte sie noch nie. Mit vier Schulklassen aus Hellersdorf, Tempelhof, Schöneberg und Neukölln und mit Amateurtänzern haben sie und ihre Stammtänzer mehrere Wochen an „Carmen“ nach der Musik von George Bizet gearbeitet. Eine Weiterbildung, auch für ihre Tänzer, die den Auftrag hatten, die Bewegungsmöglichkeiten und die Ausdruckslust der Schüler zu beobachten und das choreografische Material darauf abzustimmen. Viele Carmen und viele Micaelas hat diese Choreografie.

Die Duette mit Don José, die Zweikämpfe der Männer, sie finden jeweils in ihrer Klasse das erste Publikum, dem wiederum die 2.000 Leute in der Arena zuschauen. Wie bunte Inseln sieht das aus in der großen Halle, wie verstreute Dörfer, mit ihren je eigenen Geschichten von Liebe, Eifersucht und Tod. Ließ man den Blick von der Gruppe nahe von einem zur nächsten schweifen, sah man, wie jedes Paar seinen eigenen Stil ertastete und fand. Manche sehr ernst und hingebungsvoll mit Bewegungen voller Pathos, die erstaunlicherweise gar nicht komisch wirkten, andere mit mehr Kraft und Geschick die Variationen in der Begegnung zweier Körper ausprobierend, wieder andere schon ganz angekommen in Bildern von Verführung, erotischer Ausstrahlung und Bewunderung. Den Tanz so dem Vermögen der Kinder anzupassen – das sind ja keine Tanzklassen, sondern 8., 9. und 11. Klassen in ihrer ganzen Heterogenität –, das zeugt von einer großen Offenheit der Profis im Team.

Es gibt einen Moment kurz vor dem Finale, der Tod ist Carmen schon vorausgesagt, da kommen die Kinder auf Fahrrädern in die große Halle der Arena, und das Umeinanderkreiseln bringt alle in einem Bild zusammen. Musikalisch ist die Spannung schon da, das ruhige Gleiten der Räder baut dazu einen großartigen Kontrast. Wenn dann der Mord geschieht an Carmen, spielt ausnahmsweise nur ein Paar, die anderen alle stehen dicht gedrängt in dem geöffneten Tor der Arena, den Blick zum Wasser, der Sommerabend bricht herein – und größer könnte die Einsamkeit der Sterbenden kaum gezeichnet werden.

Massen so zu dirigieren, dass alles die emotionale Wucht des Ausdrucks verstärkt, Sasha Waltz kann das gut. Hier aber macht sie nur sparsam davon Gebrauch, lässt Szenen lieber simultan ablaufen – und davon haben die Mittanzenden sicher sehr viel mehr.

Die Berliner Philharmoniker, dirigiert von Sir Simon Rattle, spielen live. Sie leisten sich das Education-Programm seit 2003, 2.000 Mitwirkende hatten sie seitdem, 60.000 Zuschauer. Es geht um Bildung, klar, vor allem aber ist es eine Liebesgeschichte zwischen dem Orchester und der Stadt, ein Werben um jene, denen klassische Musik fern ist. Und wenn man am Ende begeistert klatscht, dann auch mit Rührung über diese gelungene Annäherung. KATRIN BETTINA MÜLLER