piwik no script img

Archiv-Artikel

Gleißendes Unglück

KURZGESCHICHTEN „Was wird“: A. L. Kennedy interessiert, wie der Mensch nach großen und kleinen Schicksalsschlägen weiterlebt – was er abwehrt, wo er hindenkt, wie er leidet

Ihr Schreiben hat den Effekt, dass man sich als heimlicher Dritter im Zimmer fühlt

VON EVA BEHRENDT

Diese Short Stories werben nicht gerade um ihre Leser. Ihre Einstiegssätze blaffen schroff: „Das war gestern.“ – „Es wird nichts, das merkte er.“ – „,Ist das klug?‘“ Oder gar: „So.“ Auf solche Feststellungen und Fragen, die sich von vagen „Es“ oder „Das“ ableiten und eher wie Schlusspunkte klingen, folgt nicht etwa verlässlich der aufklärende Zweitsatz. A. L. Kennedy lässt ihre Leser schon mal zwei bis drei Textseiten lang orientierungslos durch die Bewusstseinsströme der Protagonisten treiben, bevor sie von ihnen gepackt und kräftig durchgespült werden. Aber wann fällt es schon leicht, sich auf das Unglück, die Enttäuschung, die Wut anderer einzulassen?

Geschmeidige Handlungsverläufe und polierte Textoberflächen sind A. L. Kennedys Sache nie gewesen. Eher schon kombiniert die 1965 im schottischen Dundee geborene Schriftstellerin Einblicke in Gefühlsinnenwelten normal komplizierter Zeitgenossen mit handfestem Zynismus, und das geht selten in bruchlos glatter Prosa auf. In „Gleißendes Glück“ (2000) etwa stiftete sie zwischen der von ihrem Mann misshandelten Katholikin Mrs Brindle und einem pornosüchtigen Psychiater eine zerbrechliche Beziehung, im Trinkerinnenroman „Paradies“ (2005) vollzog sie gleichsam torkelnd die Gefühls- und Gedankenlage der Protagonistin Hannah nach. Auch ihre jüngsten Short Stories handeln von Menschen in Krisensituationen – von Paaren, die vor dem emotionalen oder finanziellen Ruin stehen, von Biomarkthändlern, die sich aussichtslos in intellektuelle Kundschaft verlieben, und von überforderten Müttern, denen schwant, dass ihre Partner sie bald verlassen werden.

Kennedy hat es nicht auf den spektakulären Plot abgesehen – im Gegenteil, ihre Wendungen und Entwicklungen sind häufig absehbar. Sie interessiert, wie der Mensch rund um die großen und kleinen Schicksalsschläge weiterlebt: was er abwehrt, wo er hindenkt, wie er leidet. Dafür rückt sie fast quälend nah an ihre Figuren heran, protokolliert ihre Gedanken samt Abschweifungen und Hängern. So klemmt sich die Titelgeschichte „Was wird“ eng an den Mann, der nichts spürt, als er sich mit dem Messer beim Kochen verletzt und von seiner Frau dafür wütend geschlagen wird, enthüllt aber nur zögerlich, dass er und sie – man muss es fast zwischen den Zeilen lesen – um ein verlorenes gemeinsames Kind trauern. In „Konditorgold“ sieht sich ein abstiegsbedrohtes Akademikerpaar beim verzweifelt Normalität vortäuschenden Spaziergang durch New York zu, registriert schamerfüllt jede Unsicherheit aneinander und landet trotzig in einem Luxusrestaurant – Requiem auf einen bereits vergangenen Lebensstil. Und „Samstag Nachmittag“ kriecht in den Kopf einer alleinstehenden Frau um die 40, die sich in einem Floating Tank zu entspannen versucht. Es ist typischer A.-L.Kennedy-Humor, dass die Icherzählerin ausgerechnet im Schwebebad ihren Zwangsgedanken erliegt und zum xten Mal jene Kindheitsszene durchspielt, in der ihr Vater ihre Mutter hinter verschlossener Schlafzimmertür verprügelt hat.

„Mit Gefühl“, die formal radikalste Geschichte, verzichtet gleich völlig auf jede Außenperspektive. Die Story ist simpel: Er und sie haben sich in der Hotelbar kennengelernt und verbringen die Nacht miteinander. Kennedy erzählt das meisterhaft als schieren Dialog – mit dem erstaunlichen Effekt, dass man sich als heimlicher Dritter im dunklen Hotelzimmer fühlt, durch dessen Kopf Bilder und Spekulationen galoppieren. Die beiden haben wilden Sex, wie in durchaus anschaulichen Einzelheiten zu lesen ist, und kommen sich im Verlauf der Nacht immer näher – bis der Mann, der behauptet hat, solo zu sein, plötzlich ganz schnell nach Hause muss. Die offensichtlich gewordene Lüge bleibt unkommentiert, das nicht Paar gewordene Paar bringt die Begegnung mit Anstand zu Ende – auch wenn Enttäuschung und Schuldbewusstsein aus jeder Zeile sprechen.

So kühn A. L. Kennedy auf der Kurzstrecke auch formal experimentiert – ihre Storys verbindet die beinahe altmodisch wirkende Idee der compassion, des Mitleids. In einem Interview hat die Autorin erklärt, dass sie immer wieder Menschen in Lebenskrisen und Niederlagen schildert, weil es sonst „keine kulturelle Möglichkeit“ gebe, „das Gefühl des Versagens auszudrücken“. Tatsächlich fügen sich die Kurzgeschichten nebenher zum Porträt einer westeuropäischen Mittelschicht, die weniger von sozialen Verwerfungen als emotionaler Verdrängung gekennzeichnet ist: Es gibt keine verbindlichen Formen des Umgangs für den plötzliche Einbruch der Liebe oder der Erinnerung, für Krankheit und Zurückweisung, Einsamkeit oder Tod. Man muss sie sich selbst erst erfinden. Das tut auch die menschenfreundliche Pessimistin Kennedy – mit dem Ergebnis, dass ihre Menschen sich bei allem erzählerischen Reichtum in ihrem Galgenhumor, in ihrer Verwirrung und Haltlosigkeit überraschend ähnlich sind.

Dazu passt die vielleicht gruseligste Geschichte des Bandes. Als der „beliebte Unterhaltungskünstler“ Barry Wescott tragisch und unerwartet stirbt, richten sich Frau und Kind „in einem behutsamen und zurückgezogenen Leben ein“ – bis Witwe Lynne nach gar nicht allzu langer Zeit den Schauspieler Richard bei einem Casting für Barrys prominenteste Rollenfigur kennenlernt. Sie entscheidet sich nicht nur professionell für ihn, sondern auch privat. Je deutlicher A. L. Kennedy durchblicken lässt, dass Richard die viel bessere Kopie von Barry ist, desto lichter und wärmer steuert die Atmosphäre Richtung Happy End. Doch hinter dem Trost, dass die Familie am Ende wieder komplett ist, gähnt ein Abgrund: Jeder Mensch ist ersetzbar.

■ A. L. Kennedy: „Was wird“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach, Berlin 2009, 224 Seiten, 19,90 €