Es geht um das Lebensgefühl

Die älteste deutsche Tageszeitung erschien heute vor 300 Jahren zum ersten Mal in Hildesheim. Aber hat das Medium auch eine Zukunft? Kommunikationswissenschaftler Helmut Scherer über schwarze Finger und das Ende des Bürgerlichen

Heute wird die Hildesheimer Allgemeine Zeitung 300 Jahre alt. Sie ist damit die älteste noch erscheinende Zeitung Deutschlands. Das Produkt Tageszeitung hat Tradition, gegenwärtig aber hat es vor allem Probleme: Die Gesamtauflage der deutschen Zeitungen und Zeitschriften ging laut der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) im ersten Quartal des Jahres gegenüber dem Vorjahresquartal um 910.000 Exemplare zurück. Zwischen 1980 und 2000 sank die Tagesreichweite der Tageszeitungen von 76 auf 54 Prozent. Im Saarland bekriegen sich derzeit der Springer und der Holtzbrinck-Verlag mit möglichst billigen Tabloid-Zeitungen. Hinzukommen die viel beschworenen Probleme der Verlage im Anzeigengeschäft und die zunehmenden Konzentrationsprozesse auf dem Zeitungsmarkt. Düstere Aussichten? Ein Gespräch mit dem Direktor des Hannoveraner Instituts für Journalistik und Kommunikationsforschung, Helmut Scherer.

Herr Scherer, in Hildesheim blickt man auf 300 Jahre Zeitungsgeschichte zurück. Wird es in fernerer Zukunft, sagen wir 300 Jahre, immer noch Tageszeitung geben?

Helmut Scherer: Das hängt davon ab, was Sie unter Zeitung verstehen. Wenn Sie unter Zeitung verstehen: aktuelle Nachrichten gedruckt auf Papier mit Hilfe eines Rotationsdruckverfahrens, dann würde ich sagen: Nein.

Wenn Sie unter Zeitung eine Form des Journalismus verstehen, die in einer periodischen Form aktuelle Nachrichten zum Lesen aufbereitet, dann würde ich sagen: Ja. Die Frage ist: geht es mehr um den kommunikativen Aspekt oder um das physische Produkt Zeitung. Letzteres wird irgendwann verschwinden.

Statt dessen dann der Bildschirm oder die digital bespielbare Folie?

Warum nicht: die gerollte Zeitung, die man in der Tasche hat und sich am Hot Spot aktualisiert. Aus vielerlei Hinsicht würde darin ein Vorteil für den Rezipienten stecken und für den Verlag, weil er ja Vertriebskosten in erheblichem Umfang sparen würde.

Wie steht es mit der Sinnlichkeit als genuiner Qualität der gedruckten Tageszeitung?

Ich glaube, das ist eine Generationenfrage. Ältere Kollegen beispielsweise sagen, dass sich die Zeitungen in den 60er, 70er Jahren noch ganz anders anfühlten. Das Papier ist wesentlich glatter geworden. Die Zeitung riecht heute anders als damals. Früher gehörten zur Zeitung auch die schwarzen Finger dazu. Das Verschwinden dieser Dinge hat keinen wirklich gestört. Ich glaube, dass die sinnliche Erfahrung, eine Zeitung in der Hand zu haben, die aus Papier besteht, nicht so hoch anzusetzen ist.

Die Zeitung muss praktisch und einfach verfügbar sein, und wenn man eine Technologie findet, die das macht, dann wird die das Trägermedium Papier ablösen können.

Welche Rolle spielt die Aktualitätsfrage beim Wandel der Zeitungen?

Das Problem der Aktualität diskutieren die Wissenschaftler und der Verlegerverband schon seit den 1960er Jahren, weil Hörfunk und Fernsehen ja seit dem immer einen Aktualitätsvorsprung gegenüber der Zeitung haben können. Nur kam danach noch einmal eine Blütezeit der Zeitung, in der sie steigende Auflagen hatte.

Damals wie heute ist der Schritt ins Lokale noch ein wesentlicher Vorteil der Zeitung: Da hat die Zeitung nach wie vor ein Informationsmonopol, das hat der lokale Rundfunk nicht wesentlich angegriffen. Ein weiterer Aspekt, den man mit Lesen besser leisten kann als mit anschauen, ist, Hintergründe zu liefern, Lernen zu ermöglichen und schnell nutzbare Service-Angebote zu liefern. Das probieren die Zeitungen seit 20 bis 30 Jahren verstärkt und damit haben sie ihre Marktposition auch gehalten. Und die Aktualitätsfrage ist nicht wirklich das Problem.

Sondern?

Mit dem Internet ist nun auch ein Lesemedium hinzugekommen. Und das Internet greift eben auch in das ökonomische Gebilde Tageszeitung über die Anzeigenmärkte sehr stark ein. Dadurch kommt die Zeitung doppelt in Bedrohung.

Außerdem schafft es die Tageszeitung heute nicht, so wie sie es früher geschafft hat, jungen Menschen in einem Alter, in dem man sich etabliert, in dem man Familie und Haushalt gründet, zu Zeitungslesern zu machen. Da versagt die Zeitung und wird in Zukunft noch mehr versagen.

Wie könnte man junge Leser zurück ins Boot holen?

Es war schon immer so, dass junge Leute weniger Tageszeitung gelesen haben. Das hat sich nochmal verschärft: Man spricht vom Bröckeln an den Rändern, auch die Alten hat man ein bisschen verloren.

Das eigentliche Problem ist: Früher gehörte das Abonnieren der Tageszeitung einmal zum Bürgerlich-Werden – Kind zeugen, Haus Bauen, Baum Pflanzen, Zeitung abonnieren. Diese Form, sich bürgerlich zu etablieren, die ist verschwunden. Das Kinder-Kriegen gehört heute nicht mehr zur mentalen Grundausstattung der Deutschen, genauso wenig wie das Haus bauen. Hier haben wir einen tief greifenden Wertewandel in unserer Gesellschaft.

Wollen die Leser keine lokale Information mehr in der Art und Weise, wie sie die Lokalzeitungen bieten?

Ich glaube, dass die ritualisierte lokale Information über den Kaninchenzüchterverein, den Sportverein oder den Stadtrat an Bedeutung verloren hat. Statt dessen ist der Nahraum für die Leute wichtiger geworden als Raum für die Alltagskultur, als Freizeitraum, als Szene. Es geht um das Lebensgefühl der Leute. Da hat die Zeitung keine vernünftige Antwort darauf gefunden. Dafür haben in den 80ern und 90ern die Stadtmagazine als Konkurrenz sehr prosperiert.

Die Frage ist, ob man mit einem Schwenk von der lokalen Kleinteiligkeit in die lokale Szene nicht auch wieder Leser verliert. Die Zeitung ist da in keiner beneidenswerten Lage.

Jenseits der Hinwendung zur Alltagskultur: Welche Art von Engagement würde den Zeitungen gut tun?

Als die Lokalradios sich etabliert haben, haben die sehr viel mit gläsernen Studios gemacht: Radio zum Anfassen. Vielleicht sollte die Zeitung auch mehr in diese Richtung gehen. Ein bisschen spürbarer werden für die potentiellen Leser vor Ort. Wobei wir da in einen Widerspruch hineinkommen: Wie kann ich einerseits nahe bei den Leuten sein, ohne andererseits zu einem Kuriositätenkabinett des Lokallebens zu werden, bei dem sich in den einzelnen Artikeln nur der wiederfindet, der bei der jeweiligen Veranstaltung auch da war. Das wird die Quadratur des Kreises sein, die es zu lösen gilt.

Von wem ließe sich da etwas lernen?

Radio ist ein Medium, das sehr vom Lebensgefühl abhängt, von den alltagskulturellen Orientierungen der Leute. Jeder erfolgreiche Radiosender steht irgendwann vor dem Problem: Altere ich jetzt mit meinen Hörern, um dann mit meinen Hörern irgendwann zu sterben und mich neu erfinden zu müssen. Oder versuche ich immer wieder für die gerade jungen Hörer aktuell zu sein. Die Mehrzahl der Sender entscheidet sich dafür, mit den Hörern zu altern.

So ähnlich wird es den Zeitungen auch gehen: Sie werden altern und für die Nachwachsenden wird es eine neue Form von tagesaktuellem Printmedium geben. Diese Dauerhaftigkeit, diese 300 Jahre, das wird dann sehr, sehr schwer.

Interview: Klaus Irler