: berliner szenen Das Alphabet der Stadt
G wie Grunewald
Am Ende eines Sommers fuhr ein verrosteter Golf mit drei bleichen Schreibern aus den ärmeren Vierteln der Stadtmitte über die langen Ausfallstraßen in den Westen der Stadt. Ein Architektensöhnchen hatte sie geladen, im Keller seiner Villa im Grunewald etwas vorzutragen – es gab interessierte Töchter aus guten Häusern, es gab reichlich Suppe und Getränke, es gab erstaunte Gesichter, die normalerweise Architekturvorträgen lauschen und dieses Mal etwas anderes geboten bekamen. Ein Honorar gab es nicht.
Am Anfang dieses Sommers beschreiten zwei Nonnen, eine weiß gekleidet, die andere schwarz, das Gleis 17 am S-Bahnhof Grunewald. Ein Mahnmal. Der Ort, von dem aus 1941 bis 1945 Züge nach Theresienstadt und Auschwitz gingen. Der letzte im März 1945. Die Nonnen unterhalten sich auf Italienisch. An der Bushaltestelle vor dem Bahnhof steht ein BVG-Bus und wirbt für „Die schwarze Kunst“.
Im Forstgebiet vor dem Grunewaldsee ist es still. Schilder warnen vor freilaufenden Hunden. Und je tiefer es in den Wald geht, desto näher kommt das Gebell. Erst ein einzelner, dann mehrere Hunde mit verschiedensten Stimmen; es ist nicht ganz klar, ob das Kläffen eher freundlicher oder garstiger Natur ist. Am See löst sich die Angst, und die Waldeinsamkeit verwandelt sich in Idylle: Jauchzende Hunde springen freudig im Wasser herum, lässig begutachtet von ihren Besitzern. Dies ist, ganz offiziell, ein Hundestrand.
Am Dianasee sitzen die beiden letzten Alkoholiker Grunewalds. So scheint es. Es gibt nur die eine Parkbank. Während der eine vorsichtig nach oben linst und wegen der Sonne die Brille wechselt, rutscht der andere Platz bietend zur Seite. Alles nicht so schlimm hier. RENÉ HAMANN