: Ein Schuldspruch nach 61 Jahren
Überlebende und Verwandte von Opfern eines SS-Massakers 1944 in der Toskana sind erleichtert über das Urteil eines italienischen Militärgerichts
AUS LA SPEZIA ANDREAS SPEIT
Zehn Namen, ein Urteil: „lebenslänglich“. Am Mittwochabend sprach das Militärtribunal La Spezia zehn ehemalige Angehörige der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ schuldig, an dem „schlimmsten Massaker an Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs in Italien“ beteiligt gewesen zu sein. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die SS-Angehörigen um die SS-Unterscharführer Gerhard Sommer, Ludwig Sonntag und Alfred Schönenberg eine „bedeutende Funktion“ bei der Ermordung von 560 alten Männern, Frauen und Kindern in Sant'Anna am 12. August 1944 hatten. Ein Massaker jenseits „der Menschlichkeit“.
An jenem Sommertag waren etwa 300 SS-Männer in das entlegene toskanische Bergdorf vorgedrungen, hatten zahlreiche Menschen mit Schusssalven, mit Flammenwerfern, mit Handgranaten, mit dem Bajonett barbarisch ermordet und schließlich die Leichen verbrannt.
Zwar war keiner der Angeklagten im Saal, zwar wird wohl keiner der durch die Bank mittlerweile über 80-Jährigen wohl je seine Strafe verbüßen, aber die Angehörigen reagierten mit Erleichterung auf den Schuldspruch. Angehörige wie Enrico Pieri, damals zehn Jahre alt. Er verlor Eltern, Großeltern, Geschwister, insgesamt 25 Familienangehörige. Oder Silvia Pardini, damals neun, vor deren Augen die Mutter und die zwei Schwestern abgeschlachtet wurden. Manche der Alten im Saal begannen während der Urteilsverkündung zu weinen, andere suchten die Tränen zu unterdrücken. Kaum hatte der Vorsitzende Richter die Verlesung des Urteils beendet, kam Applaus auf. „Nach über 60 Jahren, endlich“, meinte eine Frau, die nur überlebte, weil ihre Mutter bei der Erschießung auf sie fiel. „90 Prozent der Dorfbewohner hat die SS ermordet“, hebt Enio Mancini hervor. „Jetzt endlich – nach 61 Jahren – ist das Massaker auch juristisch als Verbrechen bewertet worden“, so Mancini, der auch nur durch Glück überlebte.
Dankbar sind die Überlebenden von Sant'Anna di Stazzema vor allem der Staatsanwalt Marco De Paolis, der mit seinen Ermittlungen den Prozess überhaupt erst möglich gemacht hatte. De Paolis argumentierte auch in seinem Schlussplädoyer gegen die These der Verteidigung von womöglich „eskalierter, aber legitimer Partisanenbekämpfung“. „Die Verteidigung eines Mandanten ist selbstverständlich, die Verteidigung der Aktion unerträglich“, so De Paolis. „Nach Sant'Anna sind die Soldaten der SS gekommen, um ein Massaker zu begehen.“
„Kinder und Frauen ermorden, das soll erlaubt sein“, raunte es durch die Zuschauerreihen im Saal, als die Verteidiger ihre Schlussplädoyers abgaben. Entsetzt und mit versteinerter Miene hörten die Überlebenden der immer gleichen Argumentation zu: dass der konkrete Tatbeitrag ihrer Mandanten unsicher und die Befehlslage unklar sei, dass die Haager Landkriegsordnung solche Partisanenbekämpfungen erlaube und geplante besondere Grausamkeit nicht zu erkennen sei. Unisono forderten sie: „Assoluzione“ – Freispruch.
Doch einige ehemalige SSler hatten im Prozess als Zeugen die Staatsanwaltschaft bestätigt. Adolf Beckert, dem seine Kinder geraten hatten auszusagen, um „Frieden zu finden“, erzählte, wie sie Frauen und Kinder auf dem Kirchplatz „niedermähten“, und der jetzt verurteilte Ludwig Göring räumte in einem Brief ein, Frauen erschossen zu haben. In der Annahme, dass der als Haupttäter geltende Sommer längst verstorben sei, hatte zudem einer der Angeklagten in einer Vernehmung bestätigt, dass „Sommer vor Ort auch das Sagen hatte“.
„Das Urteil und die Aussagen werden selbstverständlich berücksichtigt“, erklärten in La Spezia zwei deutsche Polizeibeamte, die für die Staatsanwaltschaft Stuttgart in dem „Komplex Sant'Anna“ recherchieren. Der Sachverhalt sei auch schon ermittelt. Nun führten sie noch weitere Zeugenaussagen durch, um Tatdetails zu erfahren. Wann ein Verfahren eröffnet werden könnte, ist aber immer noch ungewiss. Seit 1995 bestand die Möglichkeit der Strafverfolgung auch in Deutschland, betont indes Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. Das Massaker und die beteiligten SS-Einheiten seien schließlich bekannt gewesen. Für den Verein der Opfer von Sant'Anna hat der Präsident Enrico Pieri die Hamburger Anwältin jetzt mit der Nebenklage beauftragt. „Wir erwarten nun eine möglichst schnelle Anklageerhebung, damit man endlich auch in Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird“, betont Heinecke.
Gegen die italienischen Urteile legten die Verteidiger Revision ein. Doch auch wenn das Urteil bestätigt wird, müssen die Verurteilten in Deutschland vorerst nichts befürchten. MITARBEIT:MICHAEL BRAUN, ROM