: Die Stadt der Nichtwähler
POLITIKVERDROSSENHEIT Nirgendwo ist es für Politiker so schwer, Wähler zu gewinnen, wie in Aschersleben
■ Bei der letzten Bundestagswahl 2005 betrug die Wahlbeteiligung bundesweit 77,7 Prozent – es war die niedrigste der Nachkriegszeit.
■ Die höchste gab es im Wahlkampf 1972 – Willy Brandt (SPD) gegen Rainer Barzel (CDU): 91,1 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil.
■ In Ostdeutschland ist die Wahlbeteiligung im Schnitt niedriger. Im Wahlkreis Börde (Sachsen-Anhalt) wurde 2005 mit 68 Prozent der geringste Wert erzielt. Innerhalb des Kreises wurde dieser Wert in Aschersleben noch um zehn Prozent unterboten (58 Prozent).
■ Zum Vergleich: In Berlin-Zehlendorf lag die Wahlbeteiligung 2005 bei 83,6 Prozent – der Spitzenwert bundesweit.
■ Prognosen zur Wahlbeteiligung in diesem Jahr gibt es nicht. „Wir äußern uns erst am Wahltag“, sagt Irina Roth vom Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap.
AUS ASCHERSLEBEN GORDON REPINSKI
Dass es Renate Horn richtig prima geht, sieht man ihr an. Braun gebrannt steht die 65-Jährige in ihrem Garten, die Augen strahlen blau, die Zähne weiß und das kurze Haar ist jugendlich blond gesträhnt. Seit einem Jahr ist sie Rentnerin, viel bekommen sie und ihr Mann nicht, sagt sie augenzwinkernd, „aber wir haben ja auch nicht so viel gearbeitet“.
Nebenbei vermietet sie Zimmer in ihrem Haus in Aschersleben, 23 Euro die Nacht, inklusive Frühstück auf der Terrasse und einer Tüte selbst angebauter Pflaumen. „Uns geht es eigentlich richtig gut“, sagt sie und lacht, aber zur Bundestagswahl, nein, „da gehen wir nicht mehr hin“. In ihrem Keller stand schon mal das Wasser, weil das Nachbarhaus verfällt und der zentrale Abfluss verschlammt ist. „Wir fühlen uns im Stich gelassen!“
Knapp ein Drittel der Wähler sind bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2005 im Wahlkreis Börde nicht wählen gegangen, es war die geringste Wahlbeteiligung bundesweit. In Aschersleben, „dem Tor zum Ostharz“, waren es sogar nur 58 Prozent. Renate Horn und ihr Mann waren damals noch dabei. Hier, in der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts, ist das Zentrum der deutschen Politikverdrossenheit.
„Es kann sein, dass heute gegen uns protestiert wird“, sagt Andreas Steppuhn, SPD-Bundestagsabgeordneter auf Wahlkampftour im Nichtwählerland. Im Jahr 2005 hat er den Nachbarwahlkreis Harz gewonnen, jetzt Aschersleben noch dazu bekommen; alles ist noch ein bisschen neu für ihn. Den Wahlkreis Börde gibt es nicht mehr, wegen der sinkenden Bevölkerungszahl entsendet Sachsen-Anhalt ab der nächsten Wahlperiode einen Abgeordneten weniger nach Berlin. Auf Steppuhns Programm steht heute ein Rundgang durch die Altstadt und eine politische Diskussion auf dem Holzmarkt.
Es ist ein schöner Sommermorgen, die Sonne schaut langsam über die Dächer der Häuser. Die wenigen Menschen laufen an dem Politiker vorbei. Wäre er in Quedlinburg oder Wernigerode unterwegs, sagt Steppuhn, dann würde er auch gegrüßt werden. „Da kennt man mich.“
Ottmar Schreiner ist zur Unterstützung aus Berlin gekommen, das linke Gewissen der SPD. Die beiden kennen sich von der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und verdrehen die Augen, wenn sie „Agenda 2010“ hören. „Wir sind keine typischen Sozialdemokraten“, sagt Steppuhn. Sie wissen: Die SPD kommt derzeit nicht gut, schon gar nicht hier. Beim Politik-Talk wird Genosse Steppuhn Genosse Schreiner interviewen. „Mit den Fragen alles klar, Ottmar?“, fragt Steppuhn. Schreiner nickt. Alles ist gründlich vorbereitet.
Vor der Alten Post und dem mächtigen Rathaus bleibt der Saarländer Schreiner stehen. „Das muss mal eine sehr reiche Stadt gewesen sein“, sagt er. In der Fußgängerzone trägt währenddessen ein Packdienst Elektrogeräte aus einem Telefonladen. Draußen hängt ein Schild: „Schließung – Bitte besuchen sie uns in Halberstadt.“
„Die Politik hat ein Glaubwürdigkeitsproblem“, sagt Andreas Michelmann, parteiloser Bürgermeister der Stadt. Michelmann, Vollbart, kräftige Statur, forsches Auftreten, gibt den Macher, den Antipolitiker. „An Steuersenkungen der CDU oder den Deutschland-Plan der SPD glaubt hier keiner mehr“, sagt er. Warum hat sich die Politik gerade im Osten so weit von den Bürgern entfernt? „Irgendwas muss stattgefunden haben“, sagt er, „offenbar waren die Erwartungen nach der Wende einfach zu groß.“
Obwohl sich Aschersleben doch so gemacht hat, wie er sagt. Nach der Wende gab es 30 Prozent Arbeitslose, jetzt sind es knapp unter 20 Prozent. Auch das Zentrum sei schöner geworden. „Wie Tag und Nacht“ seien die Unterschiede zu der Zeit vor der Wende. Nur die Leute, beklagt der Bürgermeister, „die sind einfach nicht glücklicher.“
Fast niemand bleibt stehen
Auf dem Holzmarkt, zwei Gehminuten von Michelmanns Arbeitsplatz im Rathaus entfernt, haben sich Jusos in roten T-Shirts versammelt. Einige ziehen Bierbänke aus einem VW Bus. Auf der Seite steht „Andreas Steppuhn für sie unterwegs“, ein übergroßer Politikerkopf lacht einem entgegen, die Zähne fürs Bild geweißt. „Guck mal Ottmar, sieht gut aus, oder?“, sagt Steppuhn. Schreiner nickt abwesend.
Gerade hat er aus Saarlouis einen Anruf bekommen. Ein Schraubenfabrikant ist pleite gegangen. Der CDU-Kandidat präsentiert sich vor der Lokalpresse als Retter, während Schreiner hier im Ostharz dem Kollegen hilft. Zwei Schritte von ihm entfernt versuchen die Jusos, den wenigen Passanten Infozettel in die Hand zu drücken. Fast niemand nimmt die Papiere. „Mittagszeit ist ungünstig“, sagt einer.
Als das Frage-Antwort-Theater zwischen Steppuhn und Schreiner anfängt, haben sich etwa 25 Zuhörer auf den Bierbänken niedergelassen. Die Hälfte von ihnen hat rote T-Shirts an. Steppuhn spielt dem „lieben Ottmar“ fleißig Bälle zu, während sich im Hintergrund zwei Männer mit einem Plakat aufgestellt haben. „7,50 Mindestlohn für alle“ steht auf dem Transparent, und „Hartz IV muss weg“.
Schreiner fordert vorne dasselbe, aber den Männern mit dem Plakat ist das egal. Einer schreit ihn an, will das Ende der Rente mit 67. Schreiner sagt, die 7,50 Euro, die auf dem Plakat stehen, seien nicht genug, „wir reden bald über 8 und mehr“. „10 Euro müssen es sein“, erwidert der Mann. Schreiner ist ein Politprofi. Jetzt guckt er ungläubig.
„Die Leute haben zu hohe Erwartungen“, sagt Fabian Schrader. Der 19-jährige Abiturient fällt auf mit Comic-Button an der Mütze und langen Haaren. Sein Kumpel Dustin Ahrendt und er gehören zu den wenigen, die stehen geblieben sind und zuhören. „Pflichtsache“, sagt er, „ich will Politik studieren.“
Zum Studium wird er Aschersleben verlassen, auch sein Freund wird außerhalb studieren. „Die meisten Leute, die etwas auf dem Kasten haben, hauen ab“, sagt Schrader, „unsere Generation will die Welt sehen.“ Aus dem eigenen Jahrgang kennen die beiden nur einen, der eine Ausbildung in der Stadt macht, beim Hörgeräteladen. „Aber danach will der auch weg.“
Aschersleben, 21 Uhr. Es sind noch mehr als 20 Grad, und man könnte sich hier gut einen Biergarten vorstellen oder wenigstens eine Jugendgruppe auf den Rathaustreppen. Vielleicht Musik. Ein bisschen kleinstädtische Sommerabendatmosphäre.
Stattdessen – nichts. Sieben Stunden nach der Politikershow auf dem Holzmarkt ist die Innenstadt menschenleer. „Es gibt nichts für junge Menschen“, sagt Renate Horn. Wo sind sie? „Die fahren zu Mc’Donalds.“
Keinen Kopp machen
Die Staßfurter Höhe ist die Ausfallstraße nach Bernburg. Kurz hinter den Bahngleisen wird die einsame Beschaulichkeit der Fußgängerzone von tristen Randbezirken abgelöst. Drei, vier Straßen unrenovierter, alter Häuser streifen vorbei, dann eine Siedlung mit Plattenbauten.
Das Fast-Food-Restaurant steht im Gewerbegebiet dahinter. Ein großer Parkplatz liegt davor. Schon von fern hört man Musik aus den Autos und das Grollen der Motoren. In Gruppen stehen Jugendliche um ihre Fahrzeuge herum. Neben den grellgelben Restaurant-Buchstaben bricht nur das funzelige Innenlicht der Golfs und BMWs die Dunkelheit. Hier trifft sie sich, die Jugend der Kleinstadt.
In einer Gruppe steht Steffen Burghardt. Eine Baseball-Mütze verdeckt das braune kurze Haar. Er bekäme kaum noch Jobs als Lkw-Fahrer, „ein Mindestlohn wäre gut“, sagt er, denn in seiner Branche „nehmen die Ausländer die Arbeitsplätze weg“.
„Quatsch“, sagt Thomas Wiele, sein Kumpel, „es gibt gute und schlechte Ausländer, genau wie Deutsche.“ Wiele, 26, handelt selbstständig mit Baustoffen. „Die Steuern sind zu hoch“, klagt er, und „bei dem hohen Arbeitslosengeld arbeitet bald keiner mehr.“ Bei der Ausländerdebatte gerät er mit seinem Freund Steffen aneinander.
Beide haben so etwas wie feste politische Meinungen. Der eine will Mindestlöhne, der andere niedrige Steuern. Haben sie schon mal gewählt? „Nee, noch nie!“, grölen sie. Wegen der fetten Politikerkarossen. Weil es nichts ändert. Weil man sich „keinen Kopp“ mehr macht. Weil die Eltern nicht wählen. Politikverdrossenheit wird auch vererbt.
Man muss an die Leute ran, sagt der Abgeordnete Andreas Steppuhn, auch an die Jugendlichen. Dafür habe er ein junges Team. „Wir haben auch die Jugendclubs im Auge“, sagt er, und dann erzählt er gleich von einem U-18-Projekt, das er unterstützt, um junge Leute für Wahlen zu begeistern. An die Jugendlichen ran. Das Projekt läuft. Es ist erfolgreich. Er betet es herunter.
Eigentlich möchte er bei jungen Menschen nicht kapitulieren, sagt er. Und dass es schwierig sei, alle zu erreichen. „Es ist halt die Mc’Donalds-Generation.“ Den ein oder anderen zur Wahl bewegen, das wäre was. Ein Erfolg, ein Anfang.
Renate Horn will es sich noch einmal überlegen. Eigentlich hatte sie sich ja schon gefreut nach der Wende, als sie plötzlich frei wählen durfte. Nur der verschlammte Abfluss stört sie immer noch. Auch wenn das keine Sache der Bundespolitik ist. „Einer von den Politikern soll sich endlich persönlich kümmern!“