: Arbeiterkino und DDR-Filmerbe
Defa-Filme und Weltpremiere eines Stummfilms von 1929: das Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin
Von Wilfried Hippen
Der Sommer ist keine Zeit für Filmfestivals. Aber in diesen Zeiten gilt auch: besser verschoben als abgesagt. Auch das Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern, das traditionell im Frühjahr veranstaltet wird, findet jetzt der Pandemie geschuldet schon im zweiten Jahr in Folge im Spätsommer statt. „Ich weiß gar nicht, ob ich mir gutes oder schlechtes Wetter wünschen soll“, sagt Festivalleiter Volker Kufahl der taz am Telefon. Einerseits sei es so möglich, dass mit dem Innenhof des Schweriner Schlosses eine zusätzliche Spielstätte gewonnen werden konnte, in der Filme unter freiem Himmel gezeigt werden. Andererseits sind dunkle Kinosäle an lauen Abenden nicht gerade verlockend.
Kufahl weiß auch schon vom letzten Jahr, womit er rechnen kann: „Die Besucherzahlen lagen bei nur knapp 50 Prozent der früheren Festivals.“ Er wäre „froh über einen zumindest spürbaren Anstieg der Zahlen in diesem Jahr“. Aber das Problem liegt tiefer: Auch andere Filmfestivals und die Kinos haben ihre Besucher*innenzahlen aus den Jahren zuvor nicht wieder erreicht. Das Publikum kommt nur zögerlich wieder zurück, Kufahl spricht von einer „Entwöhnung vom Ritual des Kinobesuchs“.
Das Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern ist ein Publikumsfestival und es konzentriert sich bei der Auswahl der gezeigten Filme primär auf das Kino aus den deutschsprachigen Ländern. Die Ausnahme ist ein Programmblock mit neuen Filmproduktionen aus einem Gastland – in diesem Jahr Rumänien. „Obwohl es dort mit etwa 40 Filmen pro Jahr eine überschaubare Filmproduktion gibt, haben Filme aus Rumänien Wettbewerbe in Cannes, Venedig und auf der Berlinale gewonnen“, erklärt Kufahl und ergänzt: „Aber weil diese nur sehr selten in die Kinos kommen, bleiben sie unsichtbar und es ist die Aufgabe eines Filmfestivals, solche Werke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“
In diesem Jahr gibt es auf dem Filmkunstfest außerdem eine Weltpremiere, mit der sich wohl auch das Filmfest Hamburg gern geschmückt hätte: Der Stummfilm „Brüder“ des Regisseurs Werner Hochbaum aus dem Jahr 1929 galt lange als verschollen. Im Stil des klassischen Arbeiterkinos wird darin vom Streik der Hamburger Hafenarbeiter im Winter 1896/1897 erzählt. Die Darsteller*innen sind Laien, und die dokumentarischen Aufnahmen vom Hamburger Hafen der 1920er-Jahre haben auch einen hohen historischen Wert. Der Komponist Richard Siedhoff hat eine neue Musik zum Film geschrieben, die das Metropolis-Orchester Berlin in Schwerin zum ersten Mal aufführen wird.
Gegründet wurde das Filmkunstfest im Jahr 1991 von ehemaligen Regisseur*innen des einst volkseigenen DDR-Filmunternehmens Defa. Auch heute noch ist es der „Pflege des Defa-Films verpflichtet“ (Kufahl). In diesem Jahr wird „Der Fall Gleiwitz“ aus dem Jahr 1961 gezeigt, in dem es um das Täuschungsmanöver der SS geht, durch das der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde. Am Drehbuch schrieb damals Wolfgang Kohlhaase mit, der heute 91-Jährige wird den Film in Schwerin vorstellen. Gezeigt wird er am 1. September, dem Antikriegstag. Kufahl ist neugierig darauf, was Kohlhaase als Zeitzeuge „über den aktuellen Krieg in der Ukraine denkt“.
Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern, von heute bis So, 4. 9., Schwerin, Infos und Programm: https://www.filmkunstfest.de
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