: Die Kunst sehen zu lernen
Abonniert auf Kunstverstand: Eine Hamburger Agentur will Einheimischen und Touristen die künstlerischen Aspekte der Stadt näher bringen. „Wir entwickeln Geschichte anhand der Gebäude“
von Kirsten Poness
Dienstagvormittag am St. Pauli Fischmarkt. Der Lärm des Wasserflugzeugs übertönt fast die Worte des Kunsthistorikers Joachim Buttler. Doch der 51-Jährige setzt sich durch und erzählt von seinem „Lieblingskünstler“ Joseph Beuys, der stets das Modell des für die Gesellschaft verantwortlichen Künstlers verfochten habe: Buttler geht es nicht so sehr um die sozialen Veränderungen im Viertel oder die alten Kämpfe um die Hafenstraße, sondern mehr um die neue Anlage am Elbhang: „Park Fiction – das Kunstprojekt in St. Pauli“ wird vorgestellt. Zehn gutsituierte Hamburgerinnen mittleren Alters lauschen interessiert.
Das Projekt sei in den 90er Jahren als Gegenentwurf einer Bürgerinitiative gegen eine geplante geschlossene Bebauung am Pinnasberg entstanden, erklärt Buttler seiner Gruppe und führt sie auf das Dach der Turnhalle der Ganztagsschule St. Pauli. Künstliche Palmen „wachsen“ hier, und ein welliger Rasenteppich scheint im Begriff abzuheben. Der Kunsthistoriker erläutert Feinheiten: „Die Mosaiken sind an jene der Alhambra angelehnt.“ Der Gesamtplan, von dem die Dachgestaltung ein Teil ist, sei 2002 sogar auf der Documenta XI gezeigt worden. Buttlers Zuhörerinnen diskutieren lebhaft.
Und mit Sachkenntnis: Sie alle sind Inhaberinnen eines Kunstabonnements der Agentur für Kunstverstand, die die habilitierte Kunsthistorikerin Karen Michels vor drei Jahren gründete. Die Idee dazu entstand in ihrer Turngruppe: Ob sie als Frau vom Fach nicht Führungen für sie veranstalten könne, hatten die Mitglieder gebeten. Aus den privaten Rundgängen wurden kommerzielle. Seit gut zwei Jahren ist Joachim Buttler mit von der Partie. Die beiden haben ein Jahresabo mit zehn Veranstaltungen konzipiert, das Einheimischen und Touristen besonders die künstlerischen Aspekte der Hansestadt näher bringen soll.
Das beinhaltet neben Rundgängen mit Schwerpunkt Architektur oder der Ausgestaltung Hamburger Hauptkirchen auch aktuelle Ausstellungen, etwa in der Galerie der Gegenwart oder den Galerien auf der Fleetinsel. Wer einen Termin nicht wahrnehmen kann, kann tauschen, jede Veranstaltung wird rund zehn Mal im Monat angeboten. So gibt es unter anderem eine Gruppe für junge Mütter, eine Damen- und eine Herrengruppe.
Das Besondere an den „Ausflügen“, so Michels, liege darin, dass immer die gleiche Ansprechperson dabei sei. „Die Führungen laufen in Gesprächsform ab, es wird an schon Gesehenes angeknüpft, jeder kann sich einbringen“, erklärt die 46-Jährige: „Wir wollen anleiten zum Sehen lernen, nicht oberlehrerhaft dozieren, sondern ein Instrument an die Hand geben, um sich auch allein der Kunst nähern zu können.“ Das Prinzip, „kunsthistorische Kenntnisse weiterzugeben“, gilt auch für die Fernreisen – zum Beispiel zur Biennale nach Venedig –, die Michels und Buttler organisieren .
Die Räume der Agentur liegen im ersten Stock des Kontorhauses Hansaburg. Der Blick auf das neogotische Gegenüber und die „Begeisterung über das neu entstehende Hafenviertel“, so Buttler, animierte zu einem weiteren Angebot: Seit einem Jahr gibt es Führungen ohne Anmeldung durch Speicherstadt und Hafencity.
An diesem Sonntagvormittag ist es Monika Schulz, eine von fünf freien Mitarbeitenden, die eine Gruppe von Österreichern, Schweizern und Süddeutschen mit den Besonderheiten der roten Backsteinbauten vertraut macht. „Lagern war damals besonders wichtig, deshalb ist der Speicherbau G viel prachtvoller gestaltet, als der Verwaltungsbau H“, erklärt sie etwa die architektonischen Unterschiede der Gebäude von 1886. In einem Lagerhaus hat die Agentur einen Speicherboden zur Anschauung gemietet. „Hier lagerten Orientteppiche“, erzählt die 32-Jährige. Jetzt ist der Raum leer, aber ein halb abgepulter Aufkleber an einem Pfeiler – „Lagernummer ... garantiert handgeknüpft“ – erinnert noch an seine Funktion.
Als Konkurrenz zu anderen Stadtführungen will Buttler das Agenturangebot nicht sehen. Eher als Ergänzung: „Wir gehen genauer auf die Architekturformen ein und erklären sie. Wir entwickeln Geschichte anhand der Gebäude“, sagt er. Und: „Der Bedarf danach ist da.“
service@agentur-kunstverstand.de, ☎ 040/81 97 64 31. Führungen ohne Anmeldung durch Speicherstadt und Hafencity: sonntags 12 + 14 Uhr ab Pickhuben 5, 10 Euro; Kunstabo mit 10 Veranstaltungen im Jahr: 185 Euro