: Ein neuer Tiger
Britanniens Dauerhoffnung Tim Henman verliert – jetzt soll es ein gewisser Andy Murray in Wimbledon richten
WIMBLEDON taz ■ Am nächsten Morgen saß Andrew Murray, genannt Andy, mit einem Reporter der BBC am Frühstückstisch und sah ganz schön müde aus; schlecht geschlafen, früh aufgewacht. Auf dem Tisch lagen die Titelseiten diverser Blätter, die seine Taten in dicksten Lettern priesen. Welch ein Überschwang, wie viele große Worte! Der Telegraph schrieb: Ganz England wendet sich dem neuen Helden zu. Die Times titelte: Gegrüßt sei der neue Träger der Träume Britanniens. Der Guardian schwärmte: Murray steigt aus Henmans Asche auf. Die Daily Mail posaunte: Der König ist tot; es lebe der König. Am eher schlichten Boulevard fragten Sun und Mirror: „Tim who?“, und feierten Wunderkind Andy.
Zwei Stunden nach Tim Henmans Niederlage gegen den Russen Dimitri Tursunow in der zweiten Runde hatte sich der gerade 18 Jahre alte Andrew Murray mit einem Sieg gegen den an Nummer 14 gesetzten Tschechen Radek Stepanek als neuer Mann bewährt. Es sieht so aus, als habe sich der Machtwechsel in Britanniens Tennis innerhalb weniger Stunden am Nachmittag des 23. Juni 2005 vollzogen.
Ein Jahrzehnt lang haben die Engländer gehofft und verlangt, Henman möge ihnen den ersten Titel seit Fred Perry anno ’36 bescheren. Der hatte es viermal ins Halbfinale geschafft, viermal ins Viertelfinale, zuletzt 2003 und 2004. Was haben sie nicht alles angestellt, um die Hoffnungen am Leben zu halten; haben den biederen Sportsmann Henman zum „Tiger Tim“ erklärt, haben Leidenschaft eingefordert, wo keine ist. Aber Henman machte immer gute Miene zu diesem Spiel. Auch nach der Niederlage gegen Tursunow bestand er darauf, mit all den Erwartungen habe er nie ein Problem gehabt.
Dass er viermal im Halbfinale immerhin gegen den späteren Sieger des Turniers verloren hat – 1998 und 1999 gegen Pete Sampras, 2001 gegen Goran Ivanisevic und 2002 gegen Lleyton Hewitt – wen interessiert das noch? Das kann man jedenfalls aus einem Kommentar des Daily Express schließen. Es gebe einen sehr einfachen und guten Grund, warum Henman nie in Wimbledon gewonnen habe und auch nie gewinnen werde: „Er ist nicht gut genug.“
Muss man sich nun um Andy Murray sorgen? Zum Glück ist der ein ganz anderer Typ als Henman. Ist nicht Engländer, sondern Schotte, pflegt nicht die Kunst des formellen Umgangs, sondern sagt, was er denkt, und denkt, was ihm passt. Und erklärt, die ganze Aufregung könne er einerseits zwar verstehen, aber was habe er denn bisher schon zu bieten? Einstweilen sei er doch nur die Nummer 312 der Welt, habe gerade mal zwei Spiele bei seinem ersten Turnier in Wimbledon gewonnen. Murray glaubt an sich, aber er redet sich nichts ein, denn er weiß aus eigener Erfahrungen, dass er in der Welt des Tennis nicht das einzige Talent ist. Im Gegensatz zu Henman hat er der Insel früh den Rücken gekehrt, ist nach einem Tipp des ein Jahr älteren Rafael Nadal mit 16 in die Tennisakademie der Spanier Casal und Sanchez nach Barcelona gezogen und sagt, die tägliche Auseinandersetzung mit den Konkurrenten dort habe ihm gut getan. Abseits des Platzes wirkt er spröde, wenn auch sehr direkt, im Spiel, das sagt er selbst, gibt er schon mal den Wüterich. „Tiger Andy“ wird niemand schreiben müssen, um ihn zu animieren.
Murray weiß, dass er noch Zeit braucht. Und was wird mit dem nächsten Spiel, Samstag gegen David Nalbandian? Da verzieht er keine Miene und sagt: „Das werde ich verlieren. Nalbandian steht unter den Top Ten, er hat hier schon im Finale gespielt. Ich habe in Wimbledon gerade mal zwei Spiele gewonnen, vorher zwei in Queen’s, und ich bin erst 18.“ Punktum. Wer mehr von ihm erwartet ist selber schuld. Auf die Frage, ob er am Ende seiner Laufbahn mit den gleichen Erfolgen zufrieden wäre, wie sie Tim Henman hatte, antwortet er: „Damit wäre ich ziemlich glücklich. Aber ich bin sicher, die Leute wären es nicht. Die wollen einen, der gewinnt.“ DORIS HENKEL