Ausgehen und rumstehen von Timo Berger: Andächtiges Lauschen und Kauen in Niederschöneweide
Im Schatten eines vertrockneten Treptower Parkbaums strahlte Sergio. Ab und an trafen wir uns, um die täglich empfohlenen 10.000 Schritte gemeinsam zurückzulegen.
Wir trabten zunächst spreeaufwärts. Unser heutiges Etappenziel war die Villa Novilla in Niederschöneweide, wo es am Abend eine Lesung mit Verköstigung geben sollte. Eine Handvoll Argentinier, die sich „El Mamut“ (Das Mammut) nennen, versprachen „Grill, Poesie und Perreo“, letzteres wäre mit „twerken“ nur ansatzweise übersetzt. Die Jungs aus dem Norden von Buenos Aires waren auf ihrer „Full Risk Tour“ durch Spanien, Portugal, Italien mit der unglaublichen Endstation Schöneweide. Noch am Rand des Plänterwald setzten wir mit der Fähre nach Oberschöneweide über und zogen durch eine staubige Kleingartenkolonie, vorbei an revitalisierten Fabrikhallen bis zu dem Skelett eines Portalkrans. Wir querten den Kaisersteg, „Schöneweides Amiralsbrücke“ fuhr mir durch den Knopf, doch statt Touristen, die Kronkorken in den aufgeweichten Asphalt wie in Kreuzberg drücken, war hier nur ein verlorenes Liebespaar, klobige Schuhe und Tattoos bis zum Kinn. Auf dem Grünstreifen am Spreeufer saß Lea mit ihrem Hund Louis. Lea ist Setdesignerin, trug ein Nietenhalsband und hat eine tiefe, sonore Stimme. Ich stellte ihr Sergio vor. Im Garten der Villa Novilla hatten sich an die hundert Leute zusammengefunden. Rauchschwaden standen herausfordernd in der noch nicht abgeräumten Hitze. Die durch die Vegetation hinter der Bühne scheinende Abendsonne legte Aureolen um die Köpfe.
Der Garten der Villa Novilla bietet das perfekte Setting für ein ausschweifendes Fest. Durch das wild wuchernde Buschwerk entstehen unterschiedlich einsehbare Zonen, darunter ein Cruising-Areal am Spreeufer im Kastanienschatten. Links vor der Bühne sammelte sich eine Traube von Menschen um einen Rundgrill, auf dem ein riesiges Fleischstück und Dutzende Würste brutzelten. Totti und Simur, die Gastgeber, die mit Schnurbart, Latzhose und Schlapphut Gegenbilder zur hypsteresken Postmännlichkeit geben, zelebrierten die Sandwichausgabe. Wie Hohepriester des Barbecues bestrichen sie Brötchen mit Chimichurri-Soße, legten Salatblätter, Tomatenscheiben und Grillgut darauf.
Gen Spreeufer lud eine lange Holztafel ein, sich zum andächtigen Kauen niederzulassen. Davor ein Bar-Bauwagen mit noch nicht inflationsbereinigten Preisen. Dann begannen die Lesungen. Größen der Latinoliteratur der Hauptstadt deklamierten Verse über Rixdorfer Spätikundschaft, die Erfahrung des (Nicht)Ankommens in Deutschland und Beziehungen, natürlich unglückliche und welche, zu denen es glücklicherweise nicht kommt.
Lea, die neben mir auf der Grasnarbe saß, beugte sich über ihren Hund und sagte, ich schreibe ähnlich, nur mit mehr Sex. Sergio hatte ich da schon aus den Augen verloren.
Angekündigt hatte sich ein Supermond, der laut argentinischer Astrologie für eine erhöhte Paarungsbereitschaft in der Tierwelt steht. Vom Erdtrabanten war aber nichts zu sehen. Stattdessen warf Dj Tukutuku die Musik an. Karibikbeats frästen sich durch unsere quarantänegeplagten Körper. Meine Radlerwaden zuckten auf einmal autonom im Takt eines Reggaeton, Hände fanden zueinander, Köpfe wackelten wie losgelöst von den Wirbelsäulen. Das war also dieses Perreo, was als Motto über dem Abend waberte. Etwas, das uns kollektiv in animalische Posen trieb, die Oberkörper unter unser Hüften tauchen ließ.
Als ich gegen elf nur mit Sergio den Rückzug antrat, blendete uns an einer Tankstelle grelles Licht. Hinter den Zapfsäulen schraubte sich der Supermond in die Höhe. Panisch sprangen Sergio und ich in die S-Bahn, wo uns die Klima-Anlage mit beißender Kälte empfing.
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