piwik no script img

Jenseits vom Reim

Berndt Seite stellt seinen neuen Lyrikband vor

Höhere- Töchter- Foto: reuters

„Es ist ein Jubiläumsbuch, denn dies ist meine 20. Veröffentlichung“, erklärte Berndt Seite am gestrigen Mittwoch bescheiden der Nachrichtenagentur dpa. Am Samstag werde er den Band mit seinen neuen Gedichten bei einer Lesung in der Kunstkirche Nossentin vorstellen, warb der ehemalige christdemokratische Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der offenbar als 82-jähriger Rentner viel Zeit hat, mächtige Verse zu klöppeln. Denn sein Verlag kündigt sein Werk mit wuchtigen Worten an: „In den vielen Werkstätten des Anthropozäns zieht Berndt Seite an den Fäden des Moments und befragt mit ihnen den längst abhanden geratenen Sinn des Lebens.“

Wow! Das klingt fantastisch! Aber wie befragt man eigentlich mit Fäden des Moments den Sinn des Lebens? Und wenn Berndt Seite an diesen Fäden zieht, macht er das tatsächlich in den vielen Werkstätten des Anthropozäns? Oder nur in seinem kleinen Hobbykeller?

Wo so dick aufgetragen wird, müssen wir das hochgestochene Lob unbedingt am Produkt selbst überprüfen, schlagen wir also das Buch mit dem Titel „Augentrost“ auf und suchen ein Poem des großen Gegenwartsdichters Berndt Seite heraus – „generation“, heißt es kleingeschrieben wie in einem studentischen Revolu­tions­stück: „drei gesellschaftssysteme / habe ich überlebt // auf seine weise / war jedes von ihnen / so schmerzhaft wie flüchtig // was aber lässt mich / sie alle überdauern?“

Das fragt der Fadenzieher Berndt Seite in einer seiner vielen Werkstätten, und wir fragen uns: Kann der denn nicht mal reimen? Nein, nein! Berndt Seite spricht im Reimgedicht nicht. Viel lieber gibt sich der nach dem Sinn des Lebens suchende Wortmeister dem Raunen hin. Hier wird bedeutungsschwanger angedeutet für den Leser, genauer: den Ost-Leser, dass eine schwere Last auf den zarten Schultern des verkannten Dichters liegt: „drei gesellschaftssysteme“.

Für den 1940 geborenen Versschmied müssen das dann die nationalsozialistische Diktatur, die sozialistische Diktatur und die bundesrepublikanische Demokratie sein. Aber wieso „war“ Letztere „flüchtig“? Ist die Demokratie schon vorbei? Oder ist sie auch nicht der Weisheit letzter Schluss? Wie uns der anthropozän-weise Christdemokrat weismachen will?

Dann geh doch nach drüben! Ins Land der Höheren-Töchter-Lyrik! Möchte man dem verhinderten Demokraten und Schwerpoeten Berndt Seite zurufen. Aber da ist er ja längst: im lyrischen Jenseits von Reim und Böse.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen