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Gewalt am Ende des Regenbogens

Im 15.000 Einwohner starken Herrenberg fand am Wochenende erstmals ein Christopher Street Day statt – ein Fest für die Gesellschaft. Die muss aufpassen, dass die hart erkämpften Erfolge der Vergangenheit nicht umsonst waren. Denn zu oft geht die Feierlaune Hand in Hand mit Hass und Erniedrigung.

Endlich: Erstmals feierten die Herren­berger:in­nen in diesem Jahr den Christopher Street Day. Foto: Joachim E. Röttgers

Von David Kienzler↓

Auf dem hell leuchtenden Marktplatz, auf einer kleinen Bühne vor dem Rathaus, steht Thomas Sprißler schelmisch grinsend am Mikrofon und feiert eine ganz persönliche Premiere: Seine Pronomen sind „er“ und „ihm“, verkündet Herrenbergs Oberbürgermeister stolz. Sein Lokalpolitikerhemd durfte er gegen ein Leibchen des Orga­ni­sa­to­r:in­nen-Teams tauschen: Regen­bogen­shirt statt Samtsakko. In der prallen Sonne die logischste Entscheidung.

Der Herrenberger Schultes ist der erste Redner auf dem ersten Christopher Street Day. Dem ersten, der in den verwinkelten Gassen der Altstadt gefeiert wird. Für 80 Menschen ist die Veranstaltung angemeldet, aber auf dem Marktplatz feiern zwischenzeitlich fast 200 Besuche­r:in­nen ein Fest für den Frieden, die Akzeptanz, das Anders-Und-Das-Ist-Auch-Gut-So-Sein. Nach seiner Rede hisst der OB eilig die Diversity-Pride-Flagge, dann verabschiedet er sich händeschüttelnd zum nächsten Termin.

Der Christopher Street Day in Herrenberg ist neu. Queer sein jedoch nicht, auch nicht in der Gäuprovinz und auch nicht erst seit gestern. Bereits im vergangenen Jahr bezog eine kleine Projektgruppe Stellung, organisierte einige kleine Aktionen. Arbeitsgruppen und Arbeitskreise stellten zum Beipsiel an Schulen Infomaterialien verschiedenster Organisationen bereit, die Stadt bequemte sich, die Regenbogenflagge im Pridemonth Juni vor einigen Schulgebäuden zu hissen. Mancherorts überlebten sie nicht einmal die dreißig­tägige Alibi-Frist. An einer Schule wurde sie gestohlen – vom knapp drei Meter hohen Fahnenmast.

Neun Christopher Street Days führt der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) für die diesjährige CSD-Saison in Baden-Württemberg. Zehn sind es, wenn man die Kundgebung im Gäu mitzählt. Universitätsstädte wie Freiburg und Tübingen feierten selbstverständlich. In Konstanz steigt dieses Wochenende der „CSD am See“. In Köln, weit außerhalb von Baden-Württemberg, zogen am vergangenen Wochenende mehr als eine Million Menschen durch die Straßen der Rheinstadt. Auch in Stuttgart steigt Ende Juli ein mehrtägiges Programm, das die Pride-Saison in „The Länd“ traditionell beendet. Diesjähriges Motto der Landeshauptstadt: „Community. Kraft. Europa“.

Bunte Pädagogik

Helene Schächtele, Jugendreferentin für Jugendbeteiligung im Stadtjugendring, und Mona Mayhoub, Auszubildende im Herrenberger Jugendhaus, betreuen das Projekt im Gäu. Und sie schufen gemeinsam mit den Jugendlichen den dortigen CSD, um zu zeigen, dass Wandel aktiv in Gang kommen kann, wenn sich denn genügend Leute finden, die bereit sind, die trägen Steine ins Rollen zu bringen.

Mona Mayhoub, 24, leitet im Jugendhaus den Queer-Treff, den sie selbst ins Leben gerufen hat. Der CSD ist ihr Herzens­projekt, auch sie selbst ist queer: „Ich bin ein Mensch und verliebe mich in andere Menschen.“ In Schubladen stecken möchte sie sich nicht. Seit Juni letzten Jahres betreut sie den Queer-Treff nun. Meistens kämen fünf bis zehn Jugendliche, sagt sie. Einmal im Monat treffen sie sich, tauschen sich aus über Probleme, Sorgen, Ängste, die eigene Identität, sie malen zusammen, knüpfen Armbänder, schauen Filme. „Offen für alle jungen Menschen aus der LGBTQAI+-Community und alle, die sich noch nicht sicher sind,“ heißt es von Seiten des Jugendhauses. „Letztendlich wollte ich mit dem Queer-Treff einen Raum schaffen, den ich mir als junge, queere Person gewünscht hätte.“

Auch Mark Schwarz kennt die Probleme vieler junger queerer Menschen genau, er weiß um die Wichtigkeit der Aufklärungsarbeit. Schwarz arbeitet im Zentrum Weissenburg im Stuttgarter Heusteigviertel, einer Anlauf- und Beratungsstelle für die LGBTQIA+-Community. Dort berät er bisexuelle und schwule Jungen und Männer im Raum Stuttgart. Credo seiner Arbeit: „Queersein ist kein urbanes Phänomen.“ Von überall, sagt Schwarz, wo Bus und Bahn die Provinz mit Stuttgart verbänden, kämen die Leute her.

Auch er ist am Samstag vor Ort gewesen, hat sogar mal in Herrenberg gelebt, dementsprechend groß ist seine Freude über den Festtag mit Musik und Dragshow – er selbst lief mit einer meter­großen Regenbogenflagge durch die Gäustadt. Der Stuttgarter Soziologe sieht die Pro­bleme von früher mittlerweile verschoben. „Schwul oder lesbisch zu sein, ist auch heutzutage auf dem Land weitestgehend akzeptiert.“ Ausnahmen gäbe es natürlich immer. Zum Leid der Jugendlichen. Doch: „Sobald jemand dann trans oder inter ist, sinkt das Verständnis“, sagt Schwarz. Umso wertvoller seien die vielen queeren Jugendtreffs, die nun auch vermehrt in den deutschen Kleinstädten aus dem Boden sprießen würden.

Das Gestern vergessen?

Der 30. Juni 1979 ist der Tag des ersten „Homobefreiungstages“ in Stuttgart. Der Name ist seitdem verstaubt, die Botschaften sind es nicht. 400 Teilnehmende versammeln sich an jenem Tag auf dem Schlossplatz. Anlass sind die Unruhen im New Yorker Nachtklub Stonewall Inn, die sich in diesem Jahr zum zehnten Mal jähren. Schwere Misshandlungen stehen bei Razzien wie dieser damals auf der Tages­ordnung. Das Unrecht, das den Menschen damals wider­fährt, gehört zur Lebens­realität vieler Queerer, vieler ­People of Colour. Nur wenige Jahre zuvor kam es noch zu Zwangs­outings, als die Polizei ihre Presseberichte von Zeitungen drucken ließ. Ganze Namenslisten wurden entgegen jedweder Persönlichkeitsrechte veröffentlicht, die Festgenommenen wurden von Familien und Freunden verstoßen, nicht wenige verloren ihren Job.

Im Stonewall Inn wehrten sich am 28. Juni 1969 die Diskriminierten erstmals gegen die Polizeiwillkür, die bei solchen Razzien vorherrschte. In den folgenden Tagen formierten sich erstmals große Proteste im Greenwich Village. Tagelange Straßenschlachten folgten. Die New Yorker Demonstrationszüge inspirierten weltweit zu Nachahmungen. Auch in Deutschland. In den Jahren 1985 und 1994 gab es auch in Stuttgart Paraden, seit der Jahrtausendwende findet der CSD in der Landeshauptstadt nun jährlich statt.

Doch auch Rückschläge blieben nicht aus: Noch 1994 lehnte der christdemokratische Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel die Schirmherrschaft für den Christopher Street Day ab. Die Begründung: Die sexuelle Orientierung sei Privatsache. Seitdem hat sich einiges getan. Im selben Jahr standen homo­sexuelle Handlung zwischen Männern in der Bundesrepublik erstmals nicht mehr unter Strafe. 2017 folgte die Ehe für alle, demnächst soll das höchstdiskriminierende Transsexuellengesetz ersetzt werden.

Unterlassene Hilfeleistung

Der Pfleger Detlef Raasch kam als 19-jähriger in die Landeshauptstadt, heute, fast vier Jahrzehnte später, sitzt der 58-jährige im Vorstand des CSD-Vereins und ist das politische Sprachrohr vieler queerer Menschen in Baden-Württemberg. Der CSD in Herrenberg sei auch ihm ein sehr wichtiges Anliegen. Auch deshalb ist er am vergangenen Samstag persönlich da. Die Orga­ni­sa­to­r:in­nen hatten ihn als Redner engagiert. Auch er habe schon einmal „aufs Maul bekommen“, erzählt er. Beim Stuttgarter CSD 2018 wurde er von einem Fremden attackiert und massiv beleidigt. Einen Täter konnte die Polizei damals aus Raaschs Anzeige nicht ermitteln.

Die Liste der queerfeindlichen Vorfälle ist lang. Jüngst erst die Ereignisse in Oslo. Bei einem Terroranschlag auf die LGBTQI+-Bar „London Pub“, wurden in der norwegischen Hauptstadt zwei Menschen getötet. Mindestens 21 wurden verletzt, zehn davon schwer. In Istanbul griff die Polizei bei einer von der Regierung untersagten CSD-Veranstaltung hart durch. Mindestens 370 Verhaftungen soll es in der türkischen Megacity gegeben haben. Schon seit mehreren Jahren versucht die dortige Justiz die Gay Pride Paraden zu unterbinden. Und seit jeher mit Gewalt.

In Augsburg wurden am Rande des CSD zwei Demonstrierende von Unbekannten verprügelt und getreten, ihre Flaggen zerrissen. In der Schweiz störten Vermummte den Abschlussgottesdienst der Züricher Pride. Und dann noch Karlsruhe: Eine knapp dreißigköpfige Gruppe zündete vor einem Monat, am 4. Juni, im Schlosspark eine Regenbogenflagge an, bei einer anschließenden Prügelei – wie der Vorfall trügerisch im Polizeibericht heißt – wurden Menschen verletzt. Auch Personen, die zur Hilfe eilten, seien geschlagen worden. Der Staatsschutz ermittelt nun. Auch in den eigenen Reihen.

Die Orga­ni­sa­to­r:in­nen gehen heftig mit den Beamten ins Gericht: „Solche Vorkommnisse stärken die Zweifel queerer Menschen an der Polizei und führen dazu, dass queerfeindliche Straftaten nicht zur Anzeige gebracht werden.“ Denn: In der Mehrzahl der Bundesländer werden Straftaten gegen queere Menschen überhaupt nicht erfasst. Einzig in Berlin erhebt man genauere Zahlen. In den restlichen 15 Ländern finden sich in den Kriminal­statistiken keine aussagekräftigen Einträge.

Armutszeugnis fürs Ländle

Die Innenministerkonferenz nahm sich des Themas jüngst an, erklärte, künftig die Straftaten gesondert erfassen zu wollen. Auf Kontext-Anfrage erklärt das baden-württembergische Innenministerium, die im Land neu eingeführte Kate­gorie „geschlechtsbezogene Diversität“, könne erst ab dem Jahr 2022 ausgewertet werden. Bislang konnten entsprechende Straftaten unter „Geschlecht/sexuelle Identität“ oder „Sexuelle Orientierung“ eingeordnet werden. 2021 wurden unter diese beide Kategorien 50 angezeigte Straftaten erfasst. Das Strobl-Ministe­rium erklärt: „Die Fälle sind überwiegend rechtsmotiviert.“ In Zahlen: 26. Schon 2020 kamen 55 von 67 erfassten Straftaten von rechts. Zu Gewaltdelikten allerdings sei es in beiden Jahren nicht gekommen. „Der deliktische Schwerpunkt“, heißt es in der Antwort, „lag bei Volksverhetzung und Gewaltdarstellung sowie Sachbeschädigung.“ Die Frage nach einer geschätzten Dunkelziffer beantwortete das Innenministerium bis Redaktionsschluss nicht. In Berlin beschäftigt sich die Polizei schon länger mit dem Thema und schätzt die Dunkelziffer auf 80 bis 90 Prozent.

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