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Archiv-Artikel

Helles Fernweh

Faxe aus Finnland: In Helsinki macht die Sonne derzeit nur drei Stunden Pause. Das hält ihre Bewohner nicht davon ab, mitten in der Stadt eine Sauna aus Torfquadern zu bauen

Richtung Sonne, habe ich diesen Sommer gedacht und laufe nun in Helsinkis Kallio umher, das vage mit Berlins Kreuzberg zu vergleichen ist, vorbei an Teenagern mit Gitarren, alten Frauen in Kittelschürzen, blonden Trinkern und Hunden. Zwischen zwölf und drei Uhr nachts macht die Sonne Pause, nur die alten Frauen sind dann nicht mehr anzutreffen. Dafür tags: Eine sehr gepflegte führt gerade ihren Pekinesen spazieren, als ein Mann die beiden überholt, und zwar versucht er es genau zwischen Frau und Hund hindurch. Die Leine dehnt sich wie beim Gummitwist. Erst als der Pekinese schon winselt, befreit sich der Mann durch ungeduldiges Trampeln und hastet wortlos weiter. „Dass man es eilig hat, verstehe ich ja, aber so eilig!“, staunt die alte Frau.

Andere haben sich Zeit gelassen und auf einer Grünfläche mitten in der Stadt eine Sauna aus Dutzenden von Torfquadern gebaut; aus einigen sprießt Gras. Geheizt wird mit einer alten Technik: Drinnen brennt stundenlang Holz, und zwar ohne Rauchabzug, bis die Sauna durch und durch heiß ist. In seltenen Fällen brennt die Sauna in dieser Phase auch mal ab. Mit der Wärme sammelt sich Kohlenmonoxid, das jedoch vor dem Saunabesuch durch einen Spalt entweicht. Ein wenig Qualm bleibt dennoch in der Luft, und so kommen die Leute mit grau verschmierten Gesichtern aus der Sauna. Davor brennt ein Lagerfeuer, Kübel mit kaltem Wasser stehen zur Abkühlung bereit. Nach dem letzten Gang oder auch schon vorher trinkt man ein Bier. Oder zwei – strenge Fitnessregeln für den Saunagänger sind hier unbekannt.

Ein paar Meter weiter singen Teenager mit Gitarren. Einer von ihnen, Sampsa, trägt ein lindgrünes Hemd. Viele Häuser hier haben dieselbe Farbe. Sampsa bietet mir von seiner Rhabarber-Bowle an. Er erzählt, dass er schon in Paris, Rom und Berlin war, mit dem Älterwerden jedoch feststellen muss, dass es ihm in den nordischen Städten am besten gefällt, wahrscheinlich sogar in Helsinki. Sampsa ist höchstens 25. Wir überlegen, ob es vielleicht nur Klugheit der Anpassung ist, die einen so fühlen lässt für seine Heimatstadt. Oder die Klugheit der Trägheit oder einfach nur die Trägheit allein.

Doch eins ist sicher: Das Fernweh wird immer wieder zuschlagen, auch in der mittsommerbesonnten Lieblingsstadt: Vor meiner Haustür, in einer Höhle unter der Bordsteinkante, ist ein Stück akustische Kunst versteckt. Eine Frauenstimme tönt wie aus einer fernen Welt und listet Informationen auf; eins der hallenden Fragmente klingt wie „ … um fünf von Ausgang drei …“. Eine Tafel nennt den Titel des Werks: „Ich aber gehe“. Als ich von der Sauna nach Hause komme, stehen ein paar Frauen und Männer am Kunstwerk und lauschen. Ein Mann legt sich platt auf den Asphalt, den Kopf an der Höhle. „Verflucht, wo müssen wir hin? Jetzt sag schon endlich!“ Das Lachen der Frauen klingt wehmütig. In meinem Domizil schaue ich vor dem Schlafengehen noch aus dem Fenster. Flieder und Kastanien stehen in Blüte, auf dem kleinen Rasenstück zwischen den Häusern wird auch Gitarre gespielt. Als ich nachts zur Toilette muss, ist es schon wieder hell. ELINA KRITZOKAT