: Wenn die Seele krank wird
Jede dritte Frühinvalidität geht auf psychische Erkrankungen zurück – Tendenz steigend. Wie und warum macht Arbeit die Seele krank? Im Gefüge der Erwerbswelt scheint etwas in Unordnung geraten zu sein. Mit dem Projekt LEGESA haben Unternehmen versucht, diese Schieflage durch Prävention ein wenig auszugleichen.
von Josef Reindl
Die Arbeitswelt ist seit jeher eine Sphäre, in der Veränderungen, Neuerungen und daraus resultierende Anpassungserfordernisse an der Tagesordnung sind. Der Wandel ist in eine kapitalistische Ökonomie „gesetzmäßig“ eingeschrieben. Seine Triebkräfte sind der „Verwertungszwang“ des Kapitals und der „Konkurrenzdruck“, seine Äußerungsformen neue Produkte, neue Materialien, neue Produktionsmittel, neue Organisationsweisen und neue Arbeitsmethoden.
Zum festen Grundbestand „gebändigten Kapitalismus“ gehörte es bislang, dass die Anwendung der Arbeitskraft nicht regellos und willkürlich erfolgt, sondern auf die körperliche und seelische Unversehrtheit der Beschäftigten Rücksicht genommen wird. Dass dies nicht immer gelungen ist, ist ebenso zweifelsfrei wie die Fragilität des Kompromisses zwischen Profit und Gesundheit. Heute mehren sich aber zusätzlich die Zweifel, ob diese Grundübereinkunft noch uneingeschränkt Geltung hat. Es scheint ein Wandel in der Arbeitswelt im Gange zu sein, der selbst die wandelerprobten Beschäftigten und Unternehmen überfordert.
Das markanteste Indiz dafür ist die öffentliche Thematisierung des psychischen Leids in der Arbeit, die sich in der Statistik über den vorzeitigen Berufsaustritt aufgrund einer Erwerbsminderung niederschlägt: Jede dritte Frühinvalidität geht auf psychische Erkrankungen zurück, und die Tendenz ist steigend. Dieser Trend ist ein Seismograf für eine hochgradige Irritation der Gesellschaft, dafür, dass im Gefüge der Arbeit etwas in Unordnung geraten ist und dass die Synchronisation der verschiedenen Leben, die wir führen, nicht mehr gelingen will.
„Psychischer Sprengstoff“ in den Betrieben
Das neue Arbeitsparadigma überträgt den Beschäftigten viel Verantwortung, und es verzichtet weitgehend auf eine kleinliche Kontrolle ihres Arbeitshandelns. Es gewährt ihnen Freiheit, erwartet aber im Gegenzug die Einnahme einer unternehmerischen Haltung, das Eingehen von Risiken, die Unterwerfung unter die Anforderungen des Marktes, die als Kennzahlen, als Benchmarks und als andauernde Rückspiegelung der Produktivität, des Auslastungsgrads, der aktuellen Performance in den Wahrnehmungshorizont der Beschäftigten kommen. Die Zielwerte besitzen einen harten Aufforderungscharakter, sie senden ständig Signale zur Leistungssteigerung und Optimierung der Prozesse aus. Die Beschäftigten haben selber zu entscheiden, wie sie damit umgehen, und sie stehen deshalb in der großen Gefahr, in die Selbstbelastungsfalle zu geraten.
Ein Großteil des „psychischen Sprengstoffs“ in der modernen Arbeitswelt liegt zudem in einer Sinnstörung, die viele Beschäftigte empfinden. Sinnkrisen stellen sich ein, wenn eine Reorganisation die nächste jagt, ohne Rücksicht auf die sachlichen Arbeitserfordernisse, wenn die fachliche Arbeit zugunsten „fiktionaler“ Arbeit entwertet wird, wenn das „Drumherum“ – das Dokumentieren, die Mailflut, das Meetingwesen, das „Verkaufen“ der eigenen Arbeit, das Füttern von Managementsystemen, das Accounting – wichtiger wird als die eigentliche wertschöpfende Arbeit, wenn die Zahlen mehr zählen als die Menschen, die die Werte schaffen, kurzum wenn das Gleichgewicht zwischen der Gebrauchs- und Tauschwertseite der Arbeit dauerhaft aus dem Lot gerät. Verschärft wird die Problematik durch das Faktum einer alternden Gesellschaft.
Der herkömmliche Gesundheitsschutz reicht nicht
Die alternde Gesellschaft und ein neues Belastungs- und Beschwerdenpanorama waren denn auch der Ausgangspunkt für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Präventionsprojekt LEGESA („Lebenslang gesund arbeiten“) in dem in fünf Unternehmen das diffuse Phänomen „psychische Belastung“ identifizier- und bearbeitbar gemacht wurde. Die Betriebe beschäftigen zwischen 400 und 2.000 Mitarbeiter. Sie sind tätig in Bereichen wie Regelungstechniken, Anlagen- und Maschinenbau.
Die Projektarbeit setzte an der Gewissheit an, dass das herkömmliche Format des Arbeits- und Gesundheitsschutzes gerade dann, wenn psychische Belastungen auftreten, nicht hinreicht. Die Seele und das Erleben des Alterns sind nicht objektivier- und standardisierbar, die psychischen und die Altersrisiken nur schwerlich mess- und quantifizierbar. Davon gehen jedoch die bestehenden Institutionen, Experten, Gesetze und Verordnungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz aus. Sie wollen Schaden abwehren durch Grenzwerte, Mindestnormen etc.
Es wird aber kaum gelingen, sich in der Frage psychischer Belastungen mit den gleichen Methoden zu professionalisieren wie auf dem Felde der Ergonomie und Unfallverhütung. Die Struktur psychischer Risiken benötigt eine integrative Gesundheitskultur und legt die Beteiligung der Betroffenen und weiterer sozialer Akteure aus unterschiedlichsten Bereichen nahe – es bedarf einer kleinen Revolution im Denken und Handeln.
Um dem gerecht zu werden, wurden im Projekt in enger Zusammenarbeit und ohne falsch verstandenes Expertentum Themenbereiche definiert sowie der Kreis der betrieblichen Präventionsträger auf gesundheitspolitische Laien ausgeweitet, die Akteure der Arbeits-, Leistungs- und Personalpolitik und die Beschäftigten selber.
LEGESA war also in gewisser Weise ein Projekt neuen Typs, Forschungs-, Gestaltungs- und Beratungsprojekt in einem, mit den gesamten Unternehmen als in die Pflicht genommenen Akteuren. So aufgestellt war es auch leichter, Veränderungen anzustoßen, durchzusetzen und in der betrieblichen Praxis zu implementieren. Hierbei ging es auch um die Gestaltung von Arealen, Bedingungen, Prozessen und Kulturen der Arbeit, die nicht nur die Zurückdrängung psychischer Risiken enthält, sondern ebenso die Stärkung der Ressourcen, um die Arbeitsanforderungen bewältigen zu können.
Sieben Vorschläge, Arbeit gesünder zu machen
Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Angepasst an die spezifischen Unternehmensbedarfe wurden u. a. umgesetzt:
– Eine Fachlaufbahn: Das Konzept ist eine Antwort auf einen kulturellen Wandel in den Einstellungen vieler Hochqualifizierter und auf eine drohende Gratifikationskrise. Die firmeninterne Fachlaufbahn verkörpert eine alternative Karriereschiene, durch die fachliche Exzellenz belohnt wird. Sie schafft Voraussetzungen für ein erfülltes Arbeitsleben und für ein gesundes Altern im Betrieb. Sie kommt in der gesamten Forschung und Entwicklung des Unternehmens zum Einsatz.
– Ein Beratungs- und Notfallversorgungssystem bei psychischen Belastungen und Erkrankungen: Das System zielt auf einen professionellen Umgang mit akut gefährdeten Mitarbeitern. Es wird betrieben von externen Experten und ist eine Anlaufstelle, die psychisch überlastete Mitarbeiter anonym kontaktieren können. Es umfasst eine 24-Stunden-Hotline für Beschäftigte auf internationalen Baustellen. Allen Beschäftigten des Unternehmens ist die Existenz dieser Einrichtung bekannt, die Vorgesetzten sind angehalten, gefährdete Beschäftigte zur Inanspruchnahme des Angebots zu ermutigen.
– Auszubildende als Gesundheitsmultiplikatoren: Dieses konzipierte Modell der Aktivierung von Auszubildenden für die Verbreitung der betrieblichen Gesundheitsförderung sieht vor, dass Gesundheitsthemen, vor allem solche, die Fragen der psychischen Gesundheit berühren, in der Ausbildung als Projektthemen bearbeitet werden und dass auf diese Weise das Interesse der Jugendlichen nicht nur geweckt, sondern verstetigt wird.
– Ein Ausstiegsmodell aus der Schichtarbeit: Das entwickelte, erprobte und in den Regelbetrieb genommene Modell erlaubt es älteren Mitarbeitern durch die Einführung einer freiwilligen und begrenzten Dauernachtschicht in den Zweischichtbetrieb zu wechseln und die für sie strapaziöse Nachtarbeit zu vermeiden. Der Eintritt in die Dauernachtschicht ist nur möglich, wenn die Interessenten einen Gesundheitsworkshop absolviert haben, der auf die Risiken der Nachtarbeit und auf einen achtsamen Umgang damit aufmerksam macht. Die Dauernachtschicht steht überdies unter besonderer Beobachtung des Gesundheitsmanagements.
– Springermodell (Komplexitätsanalyse): Das im Rahmen einer Komplexitätsanalyse gefundene Springermodell sieht vor, durch eine Aufstockung des Personalstands die Belastungen, die aus der auftragsorientierten Steuerung und aus der Mehrstellenarbeit resultieren, zu reduzieren und gleichzeitig den Auslastungsgrad der Anlagen zu verbessern. Dies geschieht durch einen Rollenwechsel, den jeder „Stammarbeiter“ in gewissen Zeitabständen vollziehen muss. Er wird zeitweilig vom Stammarbeiter zum Springer, der den Fortgang der Produktion im Falle aufwändiger Rüstarbeiten sichert.
– Partizipative Fabrikplanung: Das Konzept der partizipativen Fabrikplanung hat zum Inhalt, die zukünftigen „Bewohner“ neuer Werkshallen und Fabrikgebäude an der Feinplanung und Ausgestaltung ihrer neuen Arbeitsumgebung zu beteiligen und auf diese Weise die Aspekte „gute Arbeit“ und „gesunde Arbeit“ in den Planungsprozess zu integrieren.
– Altersgemischte Teams: Ein Handlungsleitfaden geht davon aus, dass die gelingende Zusammenarbeit von Alt und Jung in der Zukunft ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Unternehmen sein wird. Er will die Verantwortlichen in dieser Richtung orientieren und sensibilisieren. Wichtige Instrumente, um das Prinzip der Altersmischung durchzusetzen, sind ein Monitoring der Altersstrukturen, eine Bewertung der vorgefundenen und sich entwickelnden Altersverteilungen sowie die Sensibilisierung der Führungskräfte und des Personalmanagements für die Fragen ausgewogener Altersstrukturen.
Probleme nicht an Spezialisten delegieren
Das in den Unternehmen eingeleitete Vorgehen verschiebt den Fokus vom Beobachterblick der Experten auf die Eigenaktivität der sozialen Akteure, auch wenn sie „Laien“ sind. Im klassischen Arbeitsschutz sind die Belastungen bzw. Fehlbelastungen das Fremde. Sie kommen von außen, wirken auf das Arbeitsindividuum ein, treffen auf ihm auf und lösen in ihm Beanspruchungen bzw. Fehlbeanspruchungen aus. Sie werden behandelt wie Infektionen, gegen die man sich schützen muss, ob jetzt durch Ergonomie, durch soziale Impfstoffe wie gute Führung, Kooperation, Gruppe oder durch Training und Selbstertüchtigung.
Die wichtigste Einsicht aus der Projektarbeit ist hingegen, dass Prävention bei psychischen Belastungen nicht an Spezialisten delegiert und im Stellvertretermodus bearbeitet werden kann, sondern vom Betrieb als Ganzem angenommen werden muss. Die Prävention ist in der Mitte des Betriebs, im Schnittfeld von Leistungs-, Arbeits- und Personalpolitik anzusiedeln, denn in diesem Schnittfeld lauern die eigentlichen Gefahren für die Seele.
Damit treten neue Träger der Prävention auf den Plan: die Akteure der Arbeits, Leistungs- und Personalpolitik sowie die Beschäftigten selber. Die neuen Akteure haben sich am interpretativen Präventionsmodell orientiert, das verstehend, empathisch, nichtsanktionierend die psychischen Belastungen aufzuspüren und ihnen entgegenzuwirken versucht.
Mit psychischem Leid umgehen wie mit physischem
Dabei haben die Beschäftigten eine zentrale Rolle gespielt; ihre Einbeziehung war mehr als die allseits geforderte und in Teilen auch schon praktizierte Partizipation: Sie lief auf ihr „Empowerment“ hinaus. Sie sollten ihre psychische Gesundheit in die eigenen Hände nehmen und mitarbeiten an der Veränderung belastender Einflüsse und Bedingungen und an der Schaffung heilsamer Gegenkräfte. Dies schließt ein, dass sie ihr eigenes Handeln unter dem Aspekt der Gefährdung der psychischen Gesundheit reflektieren und den ihnen gemäßen Arbeitsstil und den gesundheitsschonenden Umgang mit den Arbeitsanforderungen in konstruktiver Auseinandersetzung mit den „Konstrukteuren“ ihrer Arbeit zu finden versuchen.
Das interpretative Präventionsmodell ist ein Modell, das sich nicht verordnen lässt, sondern das den „guten Willen“ des Betriebs voraussetzt. Es hat von daher zur Zeit in der Wirtschaft nur eine begrenzte Reichweite. Aber seine Erfolge können dazu beitragen, den „guten Willen“ zu verbreitern und zukünftig die Befassung mit dem psychischen Leid in der Arbeit so normal werden zu lassen, wie es die Befassung mit dem körperlichen schon ist.
Der Autor Josef Reindl, 59, studierte Soziologie und Volkswirtschaft an der Universität Regensburg. Seit 1983 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e. V. in Saarbrücken. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Themen Unternehmenskultur, Innovation, Rationalisierung und Personalpolitik. Sein Buch „Paradoxe Freiheit, gestörter Sinn“ ist im Verlag Edition Sigma erschienen und kostet 17,90 Euro.