: Das Fluide ist das Modell
LESUNG Enno Stahl führt in seinem Roman „Winkler, Werber“ das Denken eines Agenturmenschen aus der New Economy vor, der zugleich Täter und Opfer der Krise ist. Selten hat es so viel Spaß gemacht, von einem Niedergang zu lesen
Oft überlegt man bei gesellschaftsscheueren Autoren, ob man sie nicht lieber hinter ihrem Schreibtisch lassen sollte, anstatt sie zum Vorlesen zu verpflichten. Nicht so bei Enno Stahl, der am Freitag in Kreuzberg aus seinem gerade im Verbrecher Verlag erschienenen Roman „Winkler, Werber“ las. Vor dem verwunschen aussehenden Gebäude der Lettrétage unterhält der 50-jährige Rheinländer seinen Verleger Jörg Sundermeier, den Veranstalter Moritz Malsch und ein paar Gäste. Gemeinsam trinkt man schon mal das erste Bier.
„Winkler, Werber“ eignet sich auch unabhängig von seinem sehr gesellschaftsfähigen Autor äußerst gut zum Vorlesen, denn der Roman ist ein innerer Monolog. Der Erzähler Jo Winkler arbeitet als Texter in der Werbebranche und kommentiert seine Umgebung fortwährend gedanklich. Entsprechend assoziativ und ungefiltert erfährt der Leser die Geschichte. Im Gegensatz zu James Joyce’ Figur Molly Bloom, die nur im Bett liegt, während sie denkt, ist der Protagonist von Enno Stahl ständig unterwegs: in der Agentur, in Kneipen oder bei Karstadt. Dank eines Betriebsausflugs aber verbringt er die meiste Zeit auf einem Rheindampfer.
Nicht ohne Hintergedanken hat Stahl die Figur des Germanisten und Werbetexters Jo Winkler geschaffen, die unablässig mit Worten und Sprache spielt. Seine Erlebnisse sind für den Erzähler Anlass, Werbespots daraus zu spinnen. Er assoziiert Fragmente des kulturellen Gedächtnisses wie Gedichtfetzen, Liedtexte und halbe Sprichwörter.
Nach und nach führt der Roman so nicht nur das neoliberale, rücksichtlos konsumorientierte und politisch unkorrekte Denken des Protagonisten vor. Er stellt ganz nebenbei auch die deutsche Identität zur Diskussion. „Die politische Symbollandschaft“ dazu, sagt Enno Stahl, bildet der Rhein, den nicht nur deutsche Dichter im 18. und 19. Jahrhundert als den deutschen Fluss markierten.
Im Laufe der Erzählung machen sich die Wirtschaftskrise und, damit einhergehend, auch die persönliche Krise des Protagonisten immer mehr bemerkbar: Die kleine Firma ist von den Folgen des Börsencrashs betroffen, Winkler wird noch während des Betriebsausflugs gekündigt, und mit einem Mal bricht der vorher unerschütterlich von sich selbst überzeugte New-Economy-Held in sich zusammen. War der Stil vorher noch flapsig und zynisch, ist er nun noch fragmentarischer und näher an mündlicher Sprache.
Das hat zur Folge, dass auch der Leser sich dem Strudel nicht mehr entziehen kann, und man erwischt sich dabei, mit dem eigentlich doch menschenverachtenden Kapitalistenschwein Winkler mitzuleiden, so tief steckt man schon in dessen subjektiver Weltsicht.
Wie im Buch scheinen sich auch bei Stahls Lesung Gedanken und Sprache gegenseitig zu überholen, und wenn an einigen Stellen die Atemlosigkeit der Kapitalistenpsychologie thematisiert wird, praktiziert der Autor das auch formal: „Welt der Möglichkeiten, alles in Bewegung, das Fluide ist das Modell, Regel ist drin wie Regelbruch, Visionen, Konzepte, Gelder, diese phänomenale Beschleunigung, Kapital schießt lichtschnell um den Globus, man kann es sich nicht mehr vorstellen, sind das so kleine Kanäle, wo das durchpulst wie Blut im Organismus?“
Die zwölffache Überarbeitung des Romans erklärt, wie die Sprache so dicht werden konnte. Damit ist auch das Tempo um einiges höher als bei den lässigen Werbetextern aus der TV-Serie „Mad Men“. Aber genau dieser Stress entspricht wohl der Mentalität derjenigen, die für die Krise mitverantwortlich sind. Daher dürfte man sich als Leser streng genommen nicht amüsieren. Das gelingt aber nicht.
CATARINA VON WEDEMEYER