: Die doppelte Lotte
TRANSPARENZ Lotte Steenbrink, 21 Jahre, Jungpiratin aus Berlin. Die Geschichte einer großen Liebe. Ein Online/Offline-Porträt
Online. 2.971 Menschen folgen „Lotterleben“ auf Twitter, 152 mehr als der Berliner SPD. Lotterleben ist eine Dauertweeterin. Privates, Politisches, kleine Plaudereien. Wenn man ihr auf Twitter folgt, liest man einen Ich-Roman. „Ich wüsste ja echt gern wie es in dem Paralleluniversum, in dem mein Leben nach Plan abläuft, aussieht“, schreibt sie.
Lotterleben, das ist auch ihr Blog „donnerlottchen“. Ihr Banner ist rot gepunktet und zeigt eine klassische Nerdbrille. Hier schreibt sie über alles, aber vor allem über die Piraten. Aus einer sehr persönlichen Perspektive. Die Blogposts sind mit Titelzeilen überschrieben wie „Das ist nicht die Partei, in die ich mich verliebt habe“ oder „Die Shitstormkritische Ratloseria“.
Und tatsächlich liest sich die Geschichte von Lotterleben und den Piraten auf „donnerlottchen“ vor allem als eine Geschichte von Enttäuschungen, Verzweiflung. „Machtspielchen“ beobachtet sie. „Taktik, Diplomatie, Social Engineering“ würden immer wichtiger. Das findet sie nicht so piratig.
Genauso wie die Shitstorms, die Massenbeleidigungen, die man bei Twitter abkriegen kann. Die sind bei den Piraten schon fast Folklore. Auch Lotterleben hat es getroffen. Ein „Heulkrampf“ war die Folge dieser „Scheißböe“. „Das geht so weit, dass Dinge nicht ausprobiert, Ideen nicht zu Ende gesponnen werden, weil man schon den Shitstorm trapsen hört“, schreibt sie. „Das ist nicht die Partei, in die ich mich verliebt habe.“
Auch damit, wie in der Partei mit dem „Genderpopender-Scheiß“ umgegegangen wird, hat sie ihre Probleme. „Manchmal komm ich mir mit diesem Feminismusding vor wie eine Verschwörungstheoretikerin.“ Ihre Lösung: Mehr „Flausch“. Flauschen bedeutet wohl, dass man nett zueinander ist. Im Internet.
Dabei bräuchte auch Lotterleben manchmal mehr Flausch. Auch die Piratin mit dem roten Banner trollt gern, attackiert Leute im Netz. „Ich bin aufbrausend und verletzbar. Wenn ich Wut zu lange in mich hineinfresse, explodiere ich (oder werde zynisch). Unschön.“
Einen Post unterschreibt sie mit „So long and thanks for all the Flausch.“ Und klagt in einem anderen Eintrag: „Die Piraten waren meine bisher längste Beziehung. Ich will nicht, dass es schon vorbei ist. So please, can we work it out?“PHILIPP IDEL
Offline. Es ist halb zwölf, Lotte ist gerade aufgestanden. Den Interviewtermin bei Skype hat sie verschlafen. „Weil es aus Versehen gestern länger wurde“, sagt sie und setzt sich auf dem Bett ihres WG-Zimmers zurecht. Sie sieht aus wie die Cyberpunk-Version von Mia Wallace aus „Pulp Fiction“. Die schwarz geschminkten Augen sind etwas verquollen, doch sobald es um die Piraten geht, ist Lotte hellwach. Routiniert berichtet sie von Genderdebatten der Partei, bezeichnet sich selbst als Feministin und lädt ein zum abendlichen Treffen des Kegelklubs, der geschlechterpolitischen Gruppe der Piraten.
Es ist halb sieben am Abend, Lotte ist 30 Minuten zu spät. Als sie schließlich um die Ecke kommt, fällt sie mit ihren blauen Haaren kaum auf. Sie begrüßt einen im Abendkleid vorbeischlendernden Kegelklubler mit Dreitagebart, umarmt einige der PiratInnen, die rauchend und diskutierend vor der kleinen Geschäftsstelle im Bezirk Mitte stehen. „Im Vergleich zu anderen hier bin ich ja regelrecht konservativ“, sagt die 21-jährige Informatikstudentin und lacht.
Hier wird Lotte akzeptiert, wie sie ist – das war nicht immer so. In der Schule fühlte sie sich wegen ihres Musikgeschmacks als Außenseiterin, bei den Anarchos fehlte ihr die Demokratie. Im Internet trifft sie schließlich auf Gleichgesinnte. Mit 15 färbt sie die Haare blau und träumt sich eine Partei zusammen, bei der alle online mitmachen können, die für ein Grundeinkommen kämpft. Und dann kommen die Piraten.
Gerade fertig mit dem Abitur, fiebert sie bei der Bundestagswahl 2009 mit, 2011 opfert sie die Ferien dem Wahlkampf ums Berliner Abgeordnetenhaus. Doch die mediale Aufmerksamkeit ist ihr manchmal unangenehm. „Ich wollte mich nie in den Vordergrund drängen. Hier gibt es so viele tolle Leute“, sagt sie und deutet auf den bunten Trupp, der es sich in der Sonne bequem gemacht hat.
Eine Piratin aus NRW freut sich, dass sie in Lottes Wohngemeinschaft übernachten darf. Mittlerweile sind über die Hälfte von Lottes Freunden Piraten. Auch deswegen bleibt sie dabei. „Manchmal denk ich: Warum reiß ich mir eigentlich für euch den Arsch auf. Da liegt der Austrittsantrag schon auf dem Schreibtisch. Aber dann passiert wieder was Tolles. Und so ’ne Ehe is’ ja auch nich’ einfach.“ SINA MARX