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Archiv-Artikel

1972, 1983, 2005: Karlsruhe taugt nicht als Verhinderer

Solange Schröder am Freitag keinen kompletten Unsinn erzählt, wird ihm das Bundesverfassungsgericht nicht in die Parade fahren

KARLSRUHE taz ■ Für die juristischen Erfolgsaussichten von Schröders Manöver ist es relativ irrelevant, wer sich enthält oder gegen ihn stimmt. Es macht auch keinen Unterschied, ob das einfache Abgeordnete sind oder sie zugleich Minister sind. Entscheidend ist, ob der Kanzler einigermaßen glaubhaft machen kann, dass er keine stabile Mehrheit im Bundestag mehr hat.

Natürlich entspricht Schröders Kalkül nicht der ursprünglichen Idee der Verfassungs-Autoren. Danach sollte der Bundespräsident den Bundestag nur auflösen können, wenn der Kanzler eine echte Vertrauensabstimmung verliert, also wenn er trotz Kampf für die eigene Mehrheit letztlich nicht genügend Stimmen zusammenbekommt. Im Falle Schröder ist es eher andersherum: Er überlegt, wie er sicherstellen kann, dass ihn genügend Abgeordnete nicht wählen.

Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht jedoch anerkannt, dass das Grundgesetz auch die „unechte Vertrauensfrage“ zulässt. Dann kann der Bundeskanzler in einer Situation der parlamentarischen Instabilität die Vertrauensfrage benutzen, um Neuwahlen zu erreichen. Um eine Mehrheit in der konkreten Abstimmung muss er dann nicht mehr kämpfen. Er kann, wie Willy Brandt 1972, dafür sorgen, dass sich die Minister der Stimme enthalten. Oder er kann, wie Helmut Kohl Ende 1982, die Koalitionsfraktionen bitten, sich zu enthalten.

Voraussetzung für die Zulässigkeit der „unechten Vertrauensfrage“ ist laut Karlsruher Urteil von 1983 eine „politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag“. Bei Kohls Neuwahl-Manöver hatte die Regierung eine Mehrheit von 30 Stimmen, diese war also ziemlich stabil. Dennoch akzeptierte das Verfassungsgericht die Annahme der Instabilität, weil es in der FDP nach dem Wechsel des Koalitionspartners „tiefgreifende Richtungskämpfe“ gab.

Man kann also sagen: Wenn das Verfassungsgericht schon 1983 akzeptiert hat, dass eine instabile Lage gegeben war, muss dies 2005 wohl erst recht gelten. Denn Rot-Grün hat nur eine ganz knappe Mehrheit von 4 Stimmen. Und „tiefgreifende Richtungskämpfe“ gibt es auch in der SPD. Die Parteiwechsel des Ex-Bundesvorsitzenden Lafontaine und des Stuttgarter Ex-Landesvorsitzenden Uli Maurer sind nur zwei von vielen Indizien.

Letztlich hat Karlsruhe dem jeweiligen Kanzler bei der Einschätzung, wie stabil seine Mehrheit ist, einen großen „Spielraum“ eingeräumt. Diesen haben sowohl der Bundespräsident als auch das Verfassungsgericht zu achten. Solange Schröder am Freitag keinen völligen Unsinn erzählt, wird ihm Karlsruhe also nicht in die Parade fahren.

Die Gründe, die Schröder kurz nach der NRW-Wahl angeblich gegenüber Bundespräsident Köhler äußerte, dürften auf jeden Fall den Anforderungen genügen. Wenn Schröder glaubhaft macht, dass er „ein erhöhtes Erpressungspotenzial in der Fraktion und in der Koalition“ wahrnahm, dann ist dies sicher nicht abwegig. Zu Köhler soll der Kanzler auch eindeutig gesagt haben: „Meine Regierungsmehrheit ist instabil.“

Schröder hat diese Version in den letzten Wochen allerdings nie öffentlich wiederholt. Es liegt auf der Hand, dass er diese peinliche Lagebeschreibung im Vorwahlkampf gern für sich behält und lieber auf den Bundesrat schimpft oder sich ein Quasi-Plebiszit über die Agenda 2010 wünscht. Verfassungsrechtlich sind seine Medienbotschaften jedoch irrelevant. Entscheidend ist, was er den Abgeordneten, dem Bundespräsidenten und dem Verfassungsgericht vorträgt. CHRISTIAN RATH