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Archiv-Artikel

Die Wahl der kleineren Übel

ÄGYPTEN Bei der Stichwahl zur Präsidentschaft am kommenden Wochenende werden viele entweder gegen einen neuen Diktator oder gegen die Muslimbrüder stimmen

„Ich wähle Mursi nicht wegen meiner Liebe zu den Muslimbrüdern“

LADENBESITZER GAMAL ABDEL NASSER

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Vielleicht ist es eines der vielen kreativen Videos, die wenige Tage vor der Präsidentschaftsstichwahl in Ägypten kursieren, die das Ganze am besten ausdrücken: Der Kandidat und Muslimbruder Mohammed Mursi tritt in einem Playstation-Game gegen seinen Gegner, Ahmed Schafik an, den letzten Premier Mubaraks. Der kleine, zäh wirkende Schafik mit nacktem Oberkörper setzt immer wieder Schläge gegen den dicken und untersetzten Mursi im weißen Karate-Outfit an, die der aber wegsteckt, bevor er selbst zuschlägt. Nach einer guten Kampfminute erscheinen die beiden Spieler, ebenfalls als Karikaturen, mit dem Controller auf dem Sofa sitzend. „Ich glaube, ich gewinne“, sagt der oberste Chef der Muslimbrüder, Mohammed Badie. Unbeeindruckt antwortet der Chef des Militärrates, Mohammed Tantawi, der Schafik lenkt: „Vergiss nicht, dass die Playstation mir gehört.“

Im realen Leben bekommt man in einem alten Wohnhaus aus den 1920er Jahren wenige, hundert Meter vom Tahrirplatz entfernt, hinter jeder Tür eine andere und doch sehr typische Antwort. Im sechsten Stock wohnt in der kühlen Altbauwohnung mit hohen Decken Gamal Abdel Nasser mit seiner Frau und einem seiner Söhne. Der Filialleiter eines Schreibwarenladens war während des Aufstands mit seiner Familie selbst auf dem Tahrirplatz. Er werde Mursi wählen, sagt er an, wenngleich mit ein wenig Bauchschmerzen: „Ich wähle ihn nicht wegen meiner Liebe zu den Muslimbrüdern, sondern weil Schafik das alte Regime repräsentiert, das wir nach 30 Jahren endlich losgeworden sind.“ Schafik habe die mächtige Armee und den alten Sicherheitsapparat hinter sich. Wenn er Präsident werde, hätten die Ägypter nichts erreicht. Nasser will Stabilität und dass die staatlichen Institutionen von den Resten des alten Regimes gesäubert werden. Mit Schafik als Präsidenten würde das Gegenteil geschehen. Er würde die Männer des alten Regimes wieder zurückbringen.

Natürlich höre er auch bei den Debatten zu, in denen darüber gesprochen wird, dass die Muslimbrüder dann an der Macht kleben könnten und man sie, wie einst die Regierungspartei Mubaraks, nur schwer wieder loswerden würde. „Das beeinflusst mich natürlich“, sagt Nasser. Aber das ganze Gerede von Schafik, der die Muslimbrüder mit den Taliban oder Bin Laden vergleicht, entspreche auch nicht der Wahrheit. „Vielleicht entwickeln die Muslimbrüder so ein Potenzial wie die Islamisten in der Türkei. Damit sollten wir Ägypten vergleichen“, meint er. Sicher ist er sich aber nicht, nur darin, dass Schafik um jeden Preis verhindert werden muss.

Im dritten Stock des Hauses liegt die Praxis des Internisten Reda Amer. Auch er wählt das seiner Meinung nach kleinere Übel. Für ihn ist das Schafik. Für Amer geht es darum, einen Präsidenten der Muslimbrüder zu verhindern. „Wenn die an die Macht kommen, dann werden sie jede Opposition zum Feind Gottes erklären“, befürchtet der Arzt. Vor allem hofft er, dass Schafik wieder für Ruhe und Ordnung sorgt. „Wir leben jetzt eineinhalb Jahre im Chaos. Es gibt keine Arbeit, das Land ist unproduktiv, die Sicherheitslage und der Verkehr sind eine Katastrophe“, sagt er. Vielleicht könnte Schafik das in den Griff kriegen. Schafik sei aus seinen Zeiten in der Armee und später bei der Fluglinie Egypt Air als Tyrann bekannt. „Dieser Makel könnte Ägypten jetzt kurzfristig nützen“, glaubt er. Und schließlich habe das Land jetzt unabhängige Medien und eine starke Opposition, die, so hofft Amer, verhindern, dass Schafik das Rad der Zeit wieder zurückdreht. Schafik habe vier Jahre Zeit, das Land zu stabilisieren, und dann könne man ihn schließlich wieder abwählen.

Unten, im Eingang des Gebäudes sitzt die Pförtnerin Amna neben dem Aufzug. Auch sie wird Schafik ihre Stimme geben. Der sei das Beste für das Land, habe der Doktor oben gesagt und der müsse es schließlich wissen.