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Archiv-Artikel

Ein Sport für Prinzen und Nordfriesen

Auf den Spuren britischer Armeesportvereine wächst seit einigen Jahren im Norden eine migrantische Cricket-Community, die vor allem junge Spieler aus Pakistan und Indien mit Leben füllen. Hin und wieder begreift auch ein Deutscher die Regeln und darf auf dem Pitch zeigen, was ein richtiger Run ist

aus Hamburg Markus Flohr

Manik, der indische Prinz und Richard, der britische Soldat, sitzen am Rand einer großen Wiese. Sie beobachten Melf, den nordfriesischen Prokuristen, der hundert Meter entfernt von ihnen in der Mitte der Wiese steht und seine Augen leicht zusammenkneift. Er fixiert einen kleinen, harten Ball, der gerade mit 100 Stundenkilometern auf dem Boden vor ihm aufgesetzt. Rotbraun ist er, nicht ganz rund und noch einen Meter von seinem Schlagholz entfernt. Richard und Manik starren gebannt auf Melf und die Kugel. Jetzt. Es klatscht hölzern. Melf hat voll getroffen! Sie fliegt weit und hoch, über die Fanghände der Gegenspieler hinweg. Elf Personen in weißen Pullundern und Hosen hüpfen herum, stellen dem Lederkügelchen nach. Melf rennt los. Nur zwanzig Meter geradeaus, dann hat er seinen Punkt gemacht. Seinen „Run“, nach Cricket-Sprache, für den „Alster Cricket Club“, der an diesem Sonntag im Juni gegen den TSV Buxtehude-Altkloster spielt – auf einem Feld neben den Plätzen eines Tennis- und Hockeyclubs in Hamburg-Horn. An dessen Rand meint Richard, der Mannschaftskapitän, zu Manik auf Englisch: „Ich hätte vor ein paar Monaten nicht gedacht, dass er so etwas jemals schaffen würde“. Manik nickt. Sie klatschen Beifall. Richard nickt noch einmal.

Nahezu jedes der knapp 50 deutschen Cricket-Teams hat eine ähnliche Zusammensetzung: Es spielen Engländer, Schotten, manchmal Australier, Südafrikaner oder Neuseeländer. Und vor allem: Pakistanis und Inder. Deutsche sind hier Exoten. Bei „Alster“ gibt es neben Melf nur einen, der wirklich aktiv spielt. Viele studieren, oder arbeiten in Naturwissenschaft und Industrie. Manik als Meteorologe beim Max-Planck-Institut. Oder sein Kumpel Darades: In Bangalore ist er Architekt geworden, seine Großmutter kommt aus Hamburg. Er wirft, oder genauer: „bowlt“ die schnellsten Bälle bei Alster.

Nach Melfs Run ist Pause. Richard trägt einen Bierzelt-tisch auf die Wiese, die anderen Spieler fummeln Plastiktüten mit Essen aus ihren Taschen. Bohnen und Gemüse in einem feurigen Curry tafeln sie auf, dazu Pute, Fladenbrot und Tee aus der Thermoskanne. Die Teams setzen sich mit Decken und Jacken auf den Rasen, sie halten „Teatime“ oder „Lunch“.

Manik, der wirklich ein „Rai“, ein Prinz aus der Stadt Lucknow in Nordindien ist, erzählt, dass seine Familie dort einen Tempel besitzt. Und dass ihm Richa, seine Frau, aus 5.000 Bewerberinnen ausgesucht wurde. Richa arbeitet beim Biozentrum im Botanischen Garten Klein-Flottbek. Cricket spielt sie nicht. Da ist es eher umgekehrt: Auf 5.000 Männer kommt eine Frau, die diesen Sport betreibt. Echte Frauenteams gibt es nur dort, wo auch das Männer-Cricket groß ist.

Melf, noch verschwitzt, steht daneben, hört zu und grinst. Er hat gut gespielt und stützt seinen Körper auf dem Cricket-Schläger ab. Er mag das Anglophile, sagt er. „Und bei welchem anderen Sport gibt es so gutes Essen?“ Die Stärkung ist wichtig, denn die zweite Halbzeit heute gegen den TSV Buxtehude-Altkloster, die kann noch einmal drei bis vier Stunden dauern. Ein Cricket-Match spielt sich nicht nebenbei. Es dauert einen Tag. Oder länger.

„Internationale Begegnungen können bis zu fünf Tage dauern“ erklärt Andrew Craston, Spielertrainer des Alster-Teams, „aber Amateure wie wir können ja nur am Wochenende spielen“. Heute kann er seine Mannschaft nicht anfeuern, weil er in der Kirchenband den Bass zupft. Alster gewinnt auch ohne ihn mit 227 Runs Vorsprung. Beim Training erzählt er von den Anfängen. Früher seien sie nur wenige Spieler gewesen, meist Armee-Sportclubs, die gegeneinander antraten. Andrew hat sich in den frühen Siebzigern in eine Hamburgerin verliebt und ist in Deutschland sesshaft geworden. Er arbeitet in der Medienbranche und wohnt im Hamburger Vorort Henstedt-Ulzburg. Heute ist Training. Andrew selbst „bowlt“, also wirft, und „battet“, also schlägt, seit fast fünfzig Jahren. Er ist doppelt so alt wie seine Teamkollegen, aber das ist egal.

In England wird Cricket in der Schule unterrichtet, es gibt Stadien für 30- bis 40.000 Zuschauer. Hamburgs Cricket-Teams, immerhin fünf an der Zahl, teilen sich zwei Plätze. Neben dem Alster-Platz an der Horner Rennbahn hat die Stadt einen vor die Beton-Hochhaus-Vorstadt in Mümmelmannsberg gebaut. Viele Zuschauer hat keiner der Vereine, der vorwiegend pakistanische Club „Pak Alemi“, welcher die Nordliga anführt, noch nicht mal Trainingszeiten. Neben „Alemi CC“ und „Alster CC“ gibt es in Hamburg den „Hansa CC“, den „Hamburg International CC“ und die Cricket-Sparte des HSV.

Alster spielt während der Saison fast jedes Wochenende abwechselnd Auswärts oder Zuhause. Training ist einmal die Woche. In der Liga Nord, die vom Norddeutschen Cricket Verband organisiert wird, gibt es elf Teams, außerhalb Hamburgs wird der Sport in Göttingen, Kiel, Lübeck, Buchholz, Bremen und Buxtehude betrieben, zum Teil als Unisport. Es gibt nur eine Liga, niemand kann absteigen. Warum Cricket seinen Durchbruch in Deutschland noch nicht geschafft hat? Mehrtägige Begegnungen, Teepausen, ein eher körperloses Spiel – „wenn man das Spiel nicht kennt, kann es komisch wirken. Zumal Anfänger, vor allem erwachsene, bei ihren ersten Versuchen mit Cricket immer ein wenig unbeholfen aussehen“, sagt Trainer Andrew. Die Bewegungsabläufe sind zu ungewohnt. Beim „Bowlen“ darf der Arm nicht gebeugt werden und das „Batten“ liegt von der Schlagtechnik her irgendwo zwischen Tennis und Golf. Und trotzdem – wenn es jemand zählen würde, wüssten wir, dass eine Cricket-Begegnung zwischen Indien und Pakistan – beispielsweise – mehr Zuschauer und Hörer hat, als das Halbfinale einer Herren-Fußball-WM. Dort ist Cricket das große Ding. Dort sind die Menschen verrückter nach dem Sport als die Deutschen nach Fußball.

Wenn Manik und die anderen von „Zuhause“ erzählen, bemühen sie sich, sachlich zu bleiben. Darades, der Architekt, findet, dass Indien ein sehr konservatives Land ist. Manik freut sich, in anderthalb Jahren zurück zu gehen. Er telefoniert täglich mit seiner Familie. Vor allem das Essen vermisst er. Seine Teammates nicken. Viele von ihnen gehen einmal die Woche zu einem hinduistischen Tempel in Hamburg-Rothenburgsort. Dort gibt es Nahrung – für Körper und Seele. Dort treffen sie sich, oder beim Cricket. Andere Sportarten? Beim Fußball war Manik auch schon einmal, HSV gegen Stuttgart. Überzeugt hat ihn das nicht: „Der Sport ist nichts für einen Gentleman“. Ganz anders eben als – Cricket.