: Feuer frei auf Tempel 1
VON KENO VERSECK
Das größte Feuerwerk zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli findet diesmal nicht in den USA statt, nicht einmal auf dem Planeten Erde. Die amerikanische Raumfahrtagentur Nasa möchte es ihren Steuerzahlern vielmehr in 130 Millionen Kilometern Entfernung bieten – fast so weit wie der Abstand zwischen Erde und Sonne. Am Montagmorgen soll auf dem Kometen 9P/Tempel 1 ein Geschoss einschlagen, einen möglichst großen Krater in den Himmelskörper reißen und dabei so viel Eis- und Staubmassen aufwirbeln, dass das von der Erde aus bei günstigen Bedingungen sogar noch im Feldstecher zu sehen sein wird. „Deep Impact“ lautet der Titel dieses Spektakels, angelehnt an den Hollywood-Streifen von 1998. Doch der Nasa-typischen Mischung aus Patriotismus und Action zum Trotz – es geht hier um wissenschaftliche Forschung.
Die „Deep Impact“-Raumsonde startete im Dezember letzten Jahres. Ihr Ziel, der Komet Tempel 1, ist ein fünf mal vierzehn Kilometer großer, vermutlich poröser Eis- und Staubbrocken, der die Sonne auf einer Bahn zwischen den Planeten Mars und Jupiter umrundet. An Bord hat „Deep Impact“ ein kühlschrankgroßes und 370 Kilo schweres Kupferprojektil, das 22 Stunden vor dem Impaktereignis auf Kollisionskurs mit Tempel 1 gehen wird. Ein Geschoss im eigentlichen Sinne ist es allerdings nicht. Es fliegt dem Kometen schlicht entgegen und stellt sich ihm gewissermaßen direkt in den Weg. Der Komet selbst ist es dann, der mit etwa zehn Kilometern pro Sekunde auf das Projektil prallt. Sekunden zuvor soll die Kamera des Projektils den Kometen fotografieren. Den Einschlag selbst und seine Folgen wird die „Deep Impact“-Muttersonde aus 500 Kilometern Entfernung mit Kameras und anderem wissenschaftlichem Gerät verfolgen.
Wie groß die Einschlagswirkung sein wird, mag niemand der Forscher vorherzusagen. Je nach Beschaffenheit des Kometen könnte ein haus- bis fußballfeldgroßer Krater entstehen. Oder auch nur ein schmales, tiefes Loch. Computersimulationen haben ergeben, dass der Komet unter Umständen sogar in Stücke brechen könnte. Als wahrscheinlich gilt das jedoch nicht.
Die Projektwissenschaftler hoffen jedenfalls auf einen möglichst großen und tiefen Krater. Denn das Innere von Tempel 1 ist es, was sie interessiert. „Bisherige Missionen haben sozusagen nur an der Oberfläche von Kometen gekratzt“, erläutert Jay Melosh, einer der Projektwissenschaftler, das Vorhaben. „Das sagt nichts über das Eis im Inneren aus, das noch in einem sehr ursprünglichen Zustand ist, einem Zustand wie vor viereinhalb Milliarden Jahren. Deshalb sprengen wir.“
Kometen bestehen aus Eis- und Staubresten aus der Anfangszeit des Sonnensystems. Vor viereinhalb Milliarden Jahren bildeten sich aus der Gas-, Eis- und Staubscheibe um die junge Sonne, aus der so genannten Akkretionsscheibe, die Planeten, indem Materie durch Gravitation zu immer größeren Objekten zusammenklumpte. Gewissermaßen als Krümel blieben am Ende dieses Prozesses die Kometen übrig. Ihre Erforschung gleicht also einer Zeitreise in der Vergangenheit.
Dabei sind sie eigentlich unerreichbar – jedenfalls bei dem derzeitigen Stand der Raumfahrttechnik. Nahezu sämtliche Kometen – mehr als 99 Prozent – befinden sich in der so genannten Oort’schen Wolke, einer Art Kugelschale, die das Sonnensystem in der riesigen Entfernung von 40.000 bis 50.000 Astronomischen Einheiten umgibt (1 AE = Entfernung Erde–Sonne). Eine Distanz, für deren Überbrückung gegenwärtige Raumsonden Jahrtausende bräuchten. Manchmal werden Kometen jedoch durch gravitative Einflüsse eines am Sonnensystem vorbeiziehenden Sterns oder auch der Gasplaneten des Sonnensystems wie Jupiter aus ihren Bahnen abgelenkt und geraten dann auf elliptische Bahnen in das innere Sonnensystem. In direkter Sonnennähe gasen sie aus: Die Gasatome und -moleküle, die aus dem Kometen entweichen, werden von geladenen Teilchen des Sonnenwindes angeregt – dadurch entsteht der leuchtende Schweif.
Zu solchen sonnennahen Kometen gab es in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere, zum Teil spektakuläre Missionen. Die Europäische Raumfahrtagentur ESA etwa schickte 1986 ihre „Giotto“-Sonde zum Halleyschen Kometen, dem berühmtesten aller „Schweifsterne“, der alle 76 Jahre in Sonnennähe kommt und dann mit bloßem Auge von der Erde aus zu sehen ist. Damals entstanden erstmals Nahaufnahmen eines Kometen.
Letztes Jahr dann sammelte die Nasa-Sonde „Stardust“ Material aus der Gas- und Staubhülle des Kometen Wild 2 und ist derzeit auf dem Rückweg zur Erde: Im Januar 2006 soll die Kapsel mit den Materialproben an Fallschirmen über dem US-Bundesstaat Utah herabschweben. Europäische Raumfahrtwissenschaftler wollen sogar auf einem Kometen landen: 2004 starteten sie die „Rosetta“-Sonde, die 2014 auf dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko aufsetzen soll.
Die Missionen häufen sich aus gutem Grund: Noch ist nur sehr wenig bekannt über Kometen. Der legendäre Astronom und Kometenforscher Fred Whipple, der letzten Sommer 97-jährig verstarb, nannte sie einmal „schmutzige Schneebälle“. Der Theorie zufolge bestehen sie hauptsächlich aus Wassereis, gefrorenen Gasen und Kohlenwasserstoffverbindungen wie Methan oder Ammoniak. Eingebettet in dieses Gemisch sind Silikatstaub und Gesteinsbrocken. Diese Erkenntnisse basieren im Wesentlichen auf Analysen von Material aus den Gas- und Staubhüllen der Kometen sowie auf Untersuchungen ihrer Oberflächenstruktur. Doch Material an Kometenoberflächen und aus Gas- und Staubschweifen wird etwa durch Sonneneinstrahlung chemisch verändert und ist damit längst nicht mehr in einem Zustand wie vor Milliarden Jahren. Durch die Analyse von Material aus dem Innern nun könnten Forscher weitaus besser darauf schließen, wie sich das Sonnensystem und die Erde entwickelt haben.
Kometen könnten einst das Wasser oder zumindest einen großen Teil davon auf die Erde gebracht haben, lautet eine gängige Hypothese. Zudem wurden in den letzten Jahren in Kometenmaterial mehrfach organische Verbindungen nachgewiesen, die in biochemischen Prozessen auf der Erde eine wichtige Rolle spielen. Das warf die Frage auf, ob in Kometen möglicherweise auch Aminosäuren vorkommen, die Grundbausteine der Eiweiße – und damit allen Lebens. Sogar alte, von Forschern bisher meist verworfene Spekulationen, denen zufolge Kometen das Leben auf die Erde gebracht haben könnten, haben inzwischen wieder Auftrieb erhalten.
Die Nasa wäre nicht die Nasa, hätte sie den wissenschaftlichen Fragen der „Deep Impact“-Mission nicht ein Filmszenario übergestülpt. Am Rande der 276 Millionen Dollar teuren Mission geht es auch um nichts weniger als um die Frage, wie dereinst die Erde zu retten sei. Nicht umsonst wurde die Mission nach dem gleichnamigen Steven-Spielberg-Film benannt, in dem ein kilometergroßer Gesteinsbrocken auf die Erde zurast. Für viele Projektwissenschaftler kein unrealistisches Szenario: Man werde wichtige Informationen über die Beschaffenheit von Kometen erhalten, was auch dazu dienen könne, Bedrohungen durch Asteroiden oder Kometen abzuwenden, so Michael A’Hearn.
Tempel 1 stelle allerdings keine Gefahr für die Erde dar, beschwichtigt die Nasa. Er werde durch den Beschuss auch nicht auf Kollisionskurs mit der Erde geraten. Überhaupt gleiche der Einschlag des „Deep Impact“-Projektils gar keinem wirklichen Crash. Eher dem Aufprall einer Mücke auf eine Boeing 747.