: Der normale Wahnsinn in der Leichtathletik
Die deutschen Meisterschaften in Wattenscheid brachten für die NRW-Leichtathleten enttäuschende Ergebnisse. Die Normen für die Weltmeisterschaft wurden verpasst. Jetzt hofft man auf philosophische Weitsicht des Verbandes
BOCHUM taz ■ Michael Möllenbeck nahm nach dem Wettkampf seine bald dreijährige Tochter Pia auf dem Arm und ging mit ihr Richtung Diskuskäfig. Der vollbärtige Hüne zeigte seiner Tochter den Arbeitsplatz ihres Vaters – von innen. Hier hatte der Athlet des TV Wattenscheid soeben den Deutschen Meistertitel gewonnen. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch mit seinem Wurf auf 64,12 Meter verpasste er die Norm für die Weltmeisterschaft in Helsinki (6. bis 14. August) um 88 Zentimeter. Die internationale Karriere könnte für den 36-Jährigen ausgerechnet im Wattenscheider Lohrheidestadion enden. „Ein Titel daheim war schon Pflicht“, sagte Möllenbeck, „aber eigentlich wollte ich zwei Meter weiter werfen“. Starke Rückenschmerzen hätten ihn behindert. Die Drehungen im Ring wirkten unrund, der Körper blockierte. Das Alter fordert seinen Tribut.
In der laufenden Saison warf der Wattenscheider bereits 66,56 Meter. Anderthalb Meter über Soll. Der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) fordert von den Athleten allerdings die zweimalige Erfüllung der Norm. „Ich hoffe, ich kann trotzdem zur WM. Dort sollte dann eine Weite von 66 bis 67 Meter drin sein“, sagte Möllenbeck mit ernster Miene. Anschließend verließ er schnell das Stadion.
„Wir werden uns die Nominierung unter Wahrung des Geistes der Regeln nicht einfach machen“, sagte Eike Emrich, Vize-Präsident des DLV zu Beginn der Deutschen Meisterschaften. Der „Chefvordenker“ der deutschen Leichtathletik ließ dabei durchblicken, dass es bei der anstehenden Nominierung zur WM durchaus ein „gewisses Maß an Flexibilität“ gebe.
Bislang haben gut 40 Athleten die WM-Normen jeweils zweimal erfüllt. 60 bis 65 Sportler sollen mit nach Helsinki fahren. Es bedarf demnach noch etlicher Härtefallregelungen. Wie die aussehen sollen, dazu wollte Emrich keine genaue Stellungnahme abgegeben. „Leistungssport hat immer etwas von einem Glücksspiel mit Systemtipp.“ Später hob Emrich noch auf Montesquieu ab, oder war es Machiavelli? „Ein Philosoph hat einmal gesagt, wie die Menschen Gott beeindrucken könnten…, jetzt sind Sie genauso schlau wie vorher“, sagte er schließlich in die leicht verwirrte, aber dennoch amüsierte Journalistenrunde.
Ähnlich wie Michael Möllenbeck müssen auch der Wattenscheider Speerwerfer Christian Nicolay und Weitspringer Nils Winter (Leverkusen) auf die Flexibilität der Verantwortlichen hoffen. Nicolay gewann zwar den Wettbewerb mit 81,73 Metern, er verfehlte dabei die Norm aber um sieben Zentimeter: „Ich habe ein lachendes und ein weinendes Auge“, sagte Nicolay, er hoffe aber, dass der DLV „ein Auge zudrückt“. Am besten das weinende.
Auch Weitspringer Nils Winter blieb 17 Zentimeter unter der geforderten Norm von 8,20 Metern. Der Leverkusener könnte dabei zum Opfer allzu hoher Ansprüche des DLV werden. Mit 8,21 Meter führt er momentan die europäische Bestenliste an. In den übrigen Wettkämpfen kam er konstant über acht Meter, den Europacup konnte er ebenfalls gewinnen. Winters Mannschaftskollege, Stabhochspringer Danny Ecker, schaffte in Wattenscheid erstmals die WM-Norm von 5,75 Metern. Auch hinter seiner Nominierung steht noch ein Fragezeichen.
„Es geht nicht um die Frage, ob es eine große oder kleine Mannschaft ist, sondern um die Leistungsstärke“, versuchte DLV-Generalsekretär Frank Hensel die Norm-Diskussion abschließend vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Athleten werden es ihm danken, oder auch nicht.
HOLGER PAULER
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